Was Geräusche leisten können
Im Laufe der Filmgeschichte haben sich, in klarer Abhängigkeit von den technischen Möglichkeiten, unterschiedliche Theorien für den Einsatz des Tons im Film entwickelt. Gerade weil in der Anfangszeit des Tonfilms dieser vor allem aus Stimme und Musik bestand und eine überdeutliche Aussprache die Verständlichkeit sichern sollte, bildeten sich rasch die Gegenpole Parallelismus (Ton folgt sklavisch dem Bild) und Kontrapunktik (Ton hat ein Eigenleben). Doch davon wird im Movie-College an anderer Stelle berichtet.
Forschung
Geräusche haben Qualitäten, die ihren subtilen Einsatz geradezu aufdrängen. Die Medizin hat die Wirkung von Geräuschen bisher nur in geringem Umfang untersucht, ist aber zu der Erkenntnis gekommen, dass sie den sinnesphysiologischen Bereich des Menschen stark beeinflussen. Die Wirkung auf das vegetative Nervensystem ist abhängig von der Lautstärke und der klanglichen Zusammensetzung der Geräusche. Die Stressforschung untersucht seit Jahrzehnten diese Zusammenhänge.
So wie man das einzelne Geräusch im Tonfilm immer in Verbindung mit den betreffenden Bildern beurteilen muss, so ist auch seine Wirkung im Zusammenklang mit anderen Tonelementen (andere Geräusche, Atmos, Musik) von Bedeutung. Dennoch wollen wir das Geräusch einmal allein betrachten und seine Wirkung untersuchen.
Zwei Ebenen der Wahrnehmung von Geräuschen
Der Wahrnehmungsapparat des Menschen kann gleichzeitig eingehende Sinneseindrücke hierarchisch ordnen. Bei der bewussten Wahrnehmung eines Filmes stehen die Bilder an erster, Dialoge oder Texte an zweiter, Geräusche und Musik an dritter Stelle.
Die Dominanz des Bildes wird immer dann deutlich, wenn man sich an Filme zurück erinnert. Was geschah auf der Tonebene in dem Film, den Sie zuletzt im Kino (oder Fernsehen) gesehen haben? An die akustische Erzählebene des gesehenen Filmes erinnert man sich am wenigsten. Die größere Macht hat das Geräusch eindeutig bei der gleichzeitig stattfindenden unbewussten Wahrnehmung. Ohne dass wir eine Möglichkeit hätten, uns dagegen zu wehren, steuern Geräusche unser vegetatives Nervensystem und nehmen so
Einfluss auf Atmung, Blutdruck und Blutzuckerspiegel. Außerdem können Geräusche Emotionen verstärken. Wir kennen das von dem tiefen Donnergrollen der Subwoofer, wenn Erdbeben, Vulkanausbrüche oder simple Lkw in Dolby-Surround durchs Kino brummen. Aber auch subtilere, feinsinnigere Geräusche wie Möwenkreischen, Bienensummen, leise Meeresbrandung können dramaturgisch den Gehalt einer Szene mitgestalten.
Assoziative Verarbeitung von Geräuschen
Geräusche sind stets ambivalent. Das bedeutet, sie können im jeweiligen spezifischen Kontext zu anderer Bedeutung gelangen. Das Geräusch spielender Kinder kann in einem Liebesfilm eine duftige, heitere Stimmung verbreiten. In einem Thriller über einen Kindesentführer kann das gleiche Geräusch das Gefühl von Bedrohung und Gefahr erzeugen.
Geräusche, deren Quelle wir aufgrund von Erfahrung kennen, weisen bei der Wahrnehmung auf ihren Ursprung hin. Wenn wir entferntes Hundegebell hören, wird eine ländliche Umgebung oder eine Nachtstimmung in der Großstadt assoziiert, ohne dass diese im Bild gezeigt würde. Dabei hängt es von dem Zusammenhang ab, in dem sich das betreffende Geräusch befindet, welche im Bild nicht vorhandene Realität es herstellt.
Jedes vertraute Geräusch steht stellvertretend für seine Quelle. Mit Geräuschen kann man Dinge herbeizitieren, die im Bild nicht zu sehen sind, und trotzdem eine ähnliche Realität setzen wie die im Bild vorhandenen Phänomene. Man muss die Bomber im Kriegsfilm gar nicht zeigen, es genügt das Motorengeräusch und das Heulen der Sirenen, um zu erklären, warum die Filmfiguren flüchten.
Geräusche als Träger symbolischer Bedeutungen
In zahlreichen Filmen spiegelt der Zustand der Natur die seelische Verfassung der Filmfiguren wieder. Auch ohne die Natur im Bild zu zeigen kann das Geräusch z. B. eines tobenden Sturmes als symbolischer Parallelismus die Korrespondenz von Natur und dem Schicksal der Menschen ausdrücken. Grundsätzlich besteht leicht die Gefahr, dass Fantasie und Erlebnisse der Zuschauer aufgrund der Ambivalenz von Geräuschen zu Fehlinterpretationen des Symbolgehalts von Geräuschen führen können. Jemand, der in der Nähe von Bahngleisen aufgewachsen ist, wird das Quietschen der Güterwagen anders empfinden, als jemand, dem diese Geräusche fremd sind. Daher sollte man sich beim Einsatz der symbolischen Bedeutungen der Geräusche möglichst eindeutig verhalten und nicht allzu weit vom Bild entfernen.
Geräusche und ihre innere Bewegung
Geräusche können, etwa bei Szenen aus der Arbeitswelt, der Industrie oder aber auch der Natur eine innige Verbindung mit der im Bild gezeigten Bewegung eingehen. Dabei kommt es gar nicht auf die Synchronität der Geräusche mit dem Bild an; es genügt, wenn die innere Bewegung im Geräusch mit der Bewegung im Bild ungefähr übereinstimmt. Die exakte Koordination von Bild und Geräusch übernimmt unser Gehirn.
Die Geräuschgags in Slapstick- oder Animations-Filmen (z. B. Bugs Bunny) zeigen, wie man bei entsprechender Verfremdung unter Beibehaltung der Übereinstimmung von Bewegungsmustern auf der Bild- und Geräuschebene humoristische Effekte erzielen kann. Das Bremsenquietschen eines Wagens, die Geräusche beim Zersägen von Holz, grollender Donner sind Geräusche, die ihre Entsprechung im Verhalten, dem Seelenzustand oder der Bewegung von Darstellern haben können.
Wegen der vielfältigen Möglichkeiten, einen Film durch Geräusche aufzuwerten, gehört neben den technischen Einrichtungen und dem Know-How der Tonmeister vor allem ein vielseitiges Tonarchiv zu den wirklichen Schätzen eines Tonstudios.
(Die Tonbeispiele auf dieser Seite wurden zur Verkürzung der Ladezeiten stark komprimiert.)
Der Münchner Musiker und Komponist berichtet über seine Arbeit für den Film