Charaktere schaffen
Filmgeschichten werden erst lebendig, wenn die Figuren, welche sie durchleben, für die Zuschauer glaubwürdig sind, ja, ihnen vielleicht sogar irgendwie bekannt vorkommen. Wenn sie der schlaue und zugleich ziemlich faule Lebenskünstler an Personen erinnert, die sie aus ihrer Studienzeit oder vom Arbeitsplatz her kennen, so ist den Zuschauern die Filmfigur gleich viel präsenter.
Häufig geht auch besonderer Reiz von Filmfiguren aus, in denen man sich selbst ein wenig wiedererkennt. Das Stichwort Identifikation wird an anderer Stelle im Movie-College erörtert.
Menschen sind keine synthetischen Konstrukte. Unsere Filmfiguren sollten dies erst recht nicht sein. Man kann nun einmal nicht einfach ein paar Eigenschaften zusammenfügen, gut durchmischen und fertig ist die Filmfigur. Deshalb ist es gar nicht abwegig, beim Entwurf von Filmfiguren reale Vorbilder aus dem eigenen Erfahrungsbereich oder Umfeld zu verwenden.
Nachbarn, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen & Co
Kennen Sie jemanden, der häufig schwindelt? Eine Person, die immer wieder hereinfällt und trotzdem nicht aus den Fehlern lernt? Einen Menschen, der durch seine Nervosität alle anderen auch nervös macht? Falls Sie für eine Ihrer Filmfiguren derartige Eigenschaften benötigen, sollten Sie etwas genauer hinsehen. Nicht einfach nur die Eigenschaft ausleihen und einer blutleeren Filmfigur zuschreiben. Versuchen Sie die „Spender“ der Eigenschaften etwas umfassender zu betrachten.
Denken Sie beispielsweise einmal etwas genauer über Ihre Erfahrungen mit dem „Schwindler“ nach. Was wissen Sie über dessen Lebensweg? Gibt es vielleicht Zeiten in dessen Jugend, in denen Schwindeln vielleicht sogar unerlässlich oder gar lebensrettend war? Ist die Person als Kind vielleicht selbst ständig belogen worden? Haben die eigenen Schwindeleien immer funktioniert oder ist die Person auch schon damit auf die Nase gefallen? Sind es gefährliche Lügen oder eher kleine Notlügen? Beharrt die Person verbissen auf ihren Schwindeleien oder entlarvt sie diese auch schon mal lächelnd selbst?
Lebensentwürfe
Man sollte diesen Filmfiguren glaubwürdige Lebensläufe entwerfen, welche deren Verhalten schlüssig erklären. Das Schicksal prägt einen Menschen, deshalb sollte man sich fragen: Wie ist meine Filmfigur so geworden und wie ist sie in die Lebenssituation gelangt, an der wir ihr im Film zum ersten Mal begegnen?
- Wie war ihr Elternhaus, ihre Kindheit, die Schulzeit?
- Welche Verluste, Krankheiten oder Schicksalsschläge hat sie erlebt?
- Welche unerfüllten Wünsche und Nöte hat die Figur?
- Welche Beziehungen hat sie zu anderen Personen?
- Handelt die Person selbstbestimmt oder lässt sie sich ständig fremd bestimmen?
- Wo liegen die inneren Widersprüche der Figur, wo ihre Ängste?
Entwickeln Sie kriminalistischen Spürsinn – wie „tickt“ die Figur, deren Geschichte Sie schreiben, wirklich?
Wenn Sie Ihre Filmfigur soweit kennen, dann können Sie auch leichter überlegen, welche Entwicklung Sie ihr im Verlauf ihrer Geschichte zugestehen. Und Sie können Situationen schaffen, in denen Ihre Filmfigur ihren Eigenschaften gemäß handeln kann. Die Handlungen nämlich sind es, aus denen der Zuschauer ihr geheimes Wissen über Lebenslauf und Persönlichkeit erst erkennen kann.
Widersprüche Willkommen!
Wir haben sie schon angesprochen, die inneren Widersprüche in den Menschen. Sie sind es, die Figuren oft besonders interessant, abstoßend oder sogar liebenswert machen. Sie geben den Menschen Schattierungen, erlauben es uns, diese in schillernde, aufregende, bedrohliche oder witzige Situationen zu bringen.
- Jemand, der sich für unwiderstehlich hält und dabei objektiv betrachtet äußerst abstoßend ist, interessiert uns mehr als ein eingebildeter Schönling.
- Jemand, der sich für einen erfolgreichen, raffinierten Geschäftsmann hält und in Wirklichkeit aber ständig und überall übers Ohr gehauen wird, findet eher unsere Aufmerksamkeit.
- Eine Frau, die von Männern nichts mehr wissen will, und dabei ständig unglücklich in irgendwen verliebt ist, beobachtet man einfach lieber, als eine, die jeden Mann kriegt und damit auch zufrieden ist.
Es ist nicht immer die Vollkommenheit, die Perfektion unnahbarer Idole, die uns am stärksten interessiert. Häufig machen die kleinen Fehler, die Schwächen, die kleinen und großen Lebenslügen Filmfiguren erst richtig lebendig. Kein Wunder, denn plötzlich haben sie ganz viel auch mit uns selbst gemeinsam...