Sind Richtrohr Mikrofone wirklich immer und überall sinnvoll? Über ein halbes Jahrhundert lang haben sich Richtmikrofone an den meisten Filmsets zum Standard entwickelt, ganz gleich, wo man sich befindet, es sind die üblichen Verdächtigen, die einem begegnen. Die MKH 416 er, die MKH 60er, das Neumann KMR 81i, das Sanken CS-3e, das DPA DPA4017 oder auch das Schoeps CMIT oder das digitale Schoeps Super CMIT sind würdige Vertreter dieser für ihren Verwendungszweck sicher genialen Mikrofone. Doch langsam ist es an der Zeit, über ihren Einsatz differenzierter nachzudenken. Nicht überall sind sie die perfekte Lösung.
Stärken und Schwächen
Sie sind die Stars beim Tonangeln und viele Tonleute sind fest davon überzeugt, dass sie damit für praktisch jede Aufnahmesituation das perfekte Mikrofon am Start haben. Tatsächlich aber sind die Rohrrichtmikrofone keine wirklichen Allrounder, sie sind hoch spezialisiert. Ihr Vorteil, dass sie Töne, die aus einem engen Winkel von Vorne kommen, besonders laut aufnehmen können, während sie seitliche oder rückwärtige Töne kaum berücksichtigen, wird durch verschiedene besondere Konstruktionseigenschaften erreicht. Es beginnt einmal mit der Membran. Diese ist nämlich nicht wie bei manch anderen Kugel- und Nieren Mikrofontypen nur nach vorne hin für Schallwellen offen, sondern sie ist auch auf der Rückseite für Schallwellen zugänglich. Das macht sie empfindlicher für den Schall, allerdings auch für Wind. Sie sind weniger Druckfest als normale Membranen. Richtmikrofone sind sogar extrem windempfindlich. Deshalb wurden speziell für diese Richtmikrofone alle Arten von Korbwindschutzen und „Dead Cat“ Fellüberzügen entwickelt.
Bevor der Schall nun auf diese beiden Membranseiten trifft, muss er durch ein langes Rohr gehen. Dieses Rohr besitzt bei all diesen, auch Interferenzmikrofon genannten Mikrofonen, gegenüberliegende Schlitze, die so berechnet sind, dass seitlich, also in 90 Grad Winkel zur vorderen Öffnung des Rohres eintretender Schall die Membran mit einem Zeitunterschied von Vorne und von der Rückseite erreicht. Damit können sich diese Schallwellen, die letztlich Luftdruckunterschiede sind, gegenseitig aufheben. Dieser geniale Trick hat die starke Richtwirkung solcher Mikrofone erst möglich gemacht und damit den Siegeszug dieser Mikrofone an den Filmsets in aller Welt. In vielen Aufnahmesituationen sind sie deshalb unverzichtbar.
Allerdings ist es so, dass die Berechnung der Länge des Rohres gleichzeitig den Frequenzbereich festlegt. Für unterschiedliche Frequenzen bräuchte man unterschiedlich lange Rohre. Man musste sich also bei der Herstellung festlegen, auf welchen Bereich das Mikrofon optimiert ist. Bei den allermeisten Richtrohr Mikrofonen ist dies der mittlere Stimmbereich. Damit sind tiefere und höhere Frequenzen benachteiligt. Sie sind optimiert auf jene Frequenzen, welche die Verständlichkeit der Sprache unterstützen, manche haben dort sogar eine kleine Anhebung wie etwa das MKH 416. Doch die menschliche Stimme umfasst einen deutlich weiteren Frequenzbereich.
Daher ist das klassische Richtrohr Mikrofon ein Mikrofon, welches für das Ziel, einen hoch gerichteten, engen Aufnahmewinkel zu besitzen, Kompromisse beim Klang eingeht. Je hochwertiger das Mikrofon, desto weniger stark fallen diese Kompromisse aus, doch man kann sie nicht gänzlich aufheben. Es gilt die Faustregel- je enger der Aufnahmewinkel, desto enger ist auch der Frequenzbereich. Sehr drastisch bekommt man das zu spüren, wenn man beispielsweise das normale Richtrohr MKH 416 mit dem längeren MKH 816 vergleicht. Beim MKH 816 wird der Ton so dünn, dass man es wirklich nur in absoluten Notsituationen einsetzen sollte.
Ein Hersteller, Shure hat dieses Phänomen bei der Konstruktion eines Richtmikrofons berücksichtigt und bietet sein VP89L mit austauschbaren, also aufschraubbaren Richtrohren an. Damit kann man die Richtcharakteristik sowie das Frequenzspektrum des Mikrofons verändern.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass tiefe Frequenzen mit ihren längeren Schallwellen, wenn diese seitlich auftreffen, etwa wenn Schall von vorne seitlich durch Wände etc. im 90 Grad Winkel auftrifft, zu Phaseninterferenzen führen. Dann befinden sich die gleichen Schallwellen in unterschiedlichen Phasen im Mikrofon, was zur Verstärkung oder auch Abschwächung führen kann. Niveaudifferenzen und Kammfiltereffekte sind weitere Probleme dieser Richtmikrofone. Wenn man sich also das Einsatzgebiet und die Vor,- und Nachteile dieser Richtrohrmikrofone genauer anschaut, so sollte man von der Haltung, dass diese für alle Aufnahmesituationen optimal seien, allmählich abrücken.
Nach Drehsituation differenzieren
Wer an Außenmotiven mit viel Atmo und vielleicht Störgeräuschen angelt, sollte selbstverständlich weiterhin mit Richtmikrofonen arbeiten. Hier kann man die akustische Umgebung meist schwieriger kontrollieren, da ist man darauf angewiesen, dass Tonereignisse, die unerwünscht sind, ausgeblendet werden. Für diesen Einsatz sind sie spezialisiert und hier gibt es einfach keine Alternative.
Für Innenaufnahmen, bei denen man die Situation kontrollieren kann, also Kühlschränke ausstecken, Fenster schließen oder vielleicht sogar unter optimalen Bedingungen in einem Studio drehen kann, sollte man statt Richtrohrmikrofonen besser mit Dialogmikrofonen arbeiten. Das sind in der Regel Mikrofone ohne Richtrohr und mit einem nicht so engen Aufnahmewinkel. Sie haben Nieren,- Hypernieren oder Supernieren-Charakteristik (Supercardioid) und sind in ihrer Klangcharakteristik den Richtrohren deutlich überlegen.
Typische Vertreter dieser Dialog-Mikrofone sind das Sennheiser MKH 50, das Schoeps CMC641 oder bei kleinerem Budget auch das Audio Technica AT4053b. Sie nehmen mehr tiefe und sehr hohe Frequenzen auf und schmeicheln damit den meisten Stimmen. Das Schoeps ist hier die teuerste und beste Option, es ist aber nicht so robust und so feuchtigkeitsresistent wie das Sennheiser.
Wenn wenig Budget vorhanden ist, dann fährt man nach wie vor mit einem Richtrohr-Mikrofon besser, weil es vielseitiger ist. Wenn man aber das Budget hat, zwei hochwertige Mikrofone anzuschaffen, dann wird man künftig beim Angeln in Innenräumen durch einen besseren Ton belohnt. Und so ganz nebenbei fällt das Angeln auch leichter, weil man nicht mehr so präzise auf den Mund zielen muss und auch beim hin,- und herschwenken zwischen zwei Schauspieler*Innen fällt es leichter, beide Stimmen abwechselnd sauber einzufangen.