Motivisch Denken
Nein, es soll im Folgenden nicht um das Vereinsmotto des örtlichen Pfadfinderclubs gehen, sondern um ein gestalterisches Element, welches im deutschen Sprachraum geprägt wurde und deshalb selbst im amerikanischen und französischen Kino ohne Übersetzung als „Leitmotiv“ bezeichnet wird.
Dieses Gestaltungselement vermittelt dem Zuschauer eines Films eine gewisse erzählerische Sicherheit und es erlaubt erzählerische Kunstgriffe, die einen Film reicher, gestalteter wirken lassen. Deshalb kann es nicht schaden, sich etwas eingehender damit zu beschäftigen.
Verbinden und vereinen
Film hat – wie auch Literatur und Musik – sehr viel Verwandtschaft mit der Mathematik. Im Verlauf einer Geschichte oder eines Filmes wiederkehrende Elemente sind in beinahe allen Filmwerken zu finden. Dies transportiert nicht nur Inhalte, sondern es verbindet, vereint die Struktur einer literarischen, filmischen oder musikalischen Komposition.
In der Musik wird häufig Richard Wagner als Namensgeber der Leitmotive benannt, musikalische Erinnerungsmotive, die bereits Geschehenes beim Zuhörer erneut ins Bewusstsein rufen. Aber auch in Kompositionen von
Hector Berlioz, Carl Maria von Weber oder Franz Liszt finden sich Leitmotive.
In der Literatur hat das Leitmotiv eine vergleichbare Funktion, es ruft dem Leser – durchaus auch in Variationen – bestimmte Ereignisse, Situationen oder Personen wieder ins Gedächtnis.
Vielfältige Erscheinungsformen
Unter Leitmotiv versteht man beim Film ein Thema, ein Motiv, welches mit einer bestimmten Filmfigur, einer Örtlichkeit oder einer Idee verbunden ist und unter dramaturgischen Aspekten innerhalb eines Filmwerks wiederholt wird. Dabei erfährt es eine Verstärkung, wird eindringlicher für den Zuschauer. Dabei kann sich dieses Leitmotiv auf vielfältige Weise ausprägen.
- Als Einstellung: Etwa wenn durch verkantete Kamera klaustrophobische Gefühle oder durch wankende Handkamera der Einfluss von Alkohol, Halluzinationen etc. herbeizitiert werden. Wenn in „Vertigo“ der Detektiv John „Scottie“ Ferguson (James Stewart) Höhenangst bekommt.
- Als Tonelement: Eine Filmfigur ist in der Nähe eines Bahngleises aufgewachsen, sodass das wiederkehrende Geräusch eines vorbeipolternden Güterzuges an die Kindheit der Figur erinnert. Gleichermaßen kann der vorbeifahrende Krankenwagen an den Verlust eines guten Freundes erinnern etc.
- Als Dialogteil: Eine Filmfigur wurde durch bestimmte Sätze moralisch erniedrigt. Diese Formulierungen werden von einer anderen Person zu einem späteren Zeitpunkt im Film wieder verwendet.
- Als Musik: Unser Filmheld war in der Vergangenheit unsterblich verliebt. Seine Jugendliebe hat er aber aus den Augen verloren. Der Filmkomponist hat dieser Liebe jedoch ein musikalisches Motiv gewidmet, welches im Verlauf des Filmes immer wieder auftaucht, wenn der Held sich an seine alte Liebe erinnert, nach ihr sucht, oder sie sich ihm sogar zeigt, er die „Unbekannte“ aber zunächst nicht wiedererkennt. Im Film „Der dritte Mann“ steht die Zither-Musik von Anton Karas stellvertretend für Harry Lime (Orson Welles) oder bei „Krieg der Sterne“ (Musik: John Williams) Skywalkers „Anakin’s Theme“ – eine bezaubernde Melodie – für Anakins Abkehr vom Bösen. Es kann auch durchaus mehrere Leitmotive nebeneinander geben, wie „As Time Goes by“ (Musik: Max Steiner) und die „La Marseillaise“ in Casablanca anschaulich machen.
- Als thematische Verknüpfung: Innerhalb eines Filmes geschehen bestimmte Ereignisse stets zu bestimmten Daten (immer an Feiertagen, Geburtstagen, immer an Weihnachten, an Halloween etc.) oder eine Filmfigur wird immer wieder von ihrer (unrühmlichen oder tragischen) Vergangenheit eingeholt.
- Als Orte: An bestimmten Orten tritt etwas wiederkehrend ein. In Historien- und Fantasyfilmen werden gerne bestimmte Orte mit Eigenschaften belegt, an denen sich irgendein Geschehen wiederholt, so z. B. auf Schlachtfeldern oder Turnierplätzen.
- In der Ausstattung: Bestimmte Requisiten oder stilistische Elemente können andere Zusammenhänge symbolisieren. In „Endloser Abschied“ findet sich das fortschreitende Krankheitsbild einer Alzheimer-Patientin in einer verfremdeten Wohnwelt wieder. Für kurze Momente scheinen Alltagsgegenstände, ja sogar die ganze Zimmereinrichtung mit einer Art Rauhputz überzogen. Ein Sinnbild für die Krankheit.
- Als Farbe: In dem Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (Nicholas Roeg) wird die Farbe rot als Leitmotiv genutzt. In „Franta“ taucht ein bestimmtes Blauviolett als Wagenspuren im Sand, in der Uniform Frantas und in der Kleidung der Flüchtlingsfamilie wiederkehrend auf.
- Als poetisches Motiv: Die Zeit (Lebenszeit, Zeitdruck, Uhren) oder Gegensätze, Entfernung etc. tauchen in Variationen, die sich aufeinander beziehen, auf.
- Montageelement: Ein visuelles Motiv kehrt während des Films immer wieder, um z. B. die Obsessionen einer Filmfigur zu symbolisieren.
Dies ist nur eine Auswahl der Möglichkeiten, man kann mit detektivischem Geschick in Filmen noch zahlreiche andere Varianten entdecken.
Spurensuche
Auf Ihrer eigenen Suche nach Leitmotiven in den Filmen, die Sie betrachten, sollten Sie sehr aufmerksam sein, um die Spur zu verfolgen. So etwas lässt sich idealer Weise mit Video oder DVD bewerkstelligen. Sie werden einige Sequenzen mehrfach anschauen, sich Fragen stellen.
Welche Verknüpfungen oder Stimmungen erzeugen die Leitmotive?
Auf welche Weise geschieht dies: aus sich selbst heraus oder in Verknüpfung mit den Filmbildern?
Wann tauchen die Leitmotive auf?
In welchem Verhältnis stehen sie in Bezug auf den gesamten Film?
Bleiben die Leitmotive konstant, oder verändern sie sich, vielleicht sogar in Verknüpfung mit der dramatischen Entwicklung der Handlung? |
Nicht selten sind Leitmotive in Filmen unter der Oberfläche und nicht so leicht aufzuspüren. Nicht aufgeben, Sie wissen ja, in einem guten Film kann man auch beim x-ten Anschauen noch etwas Neues entdecken...