Es ist ein Fluch, aber wenn Du Ruhe zum Drehen brauchst, sind alle Laubbläser, Rasenmäher und Bauarbeiter der Welt plötzlich zur Stelle. Sie sind häufig der Grund, weshalb Tonleute mit schlechtem Gewissen und der Kennzeichnung "Primärton" trotzdem aufnehmen, denn die Lärmverursacher sind häufig ähnlich unabwendbar wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche. Glauben tut einem das sowie niemand, der nicht aus der Filmbranche stammt, doch es muss trotzdem mal gesagt werden...
Sound Terror
Jeder Location-Tonmensch kennt es, aber niemand schreibt darüber. Es ist dieser Fluch, dieses schicksalhafte Aufeinandertreffen zweier Interessenslagen, die unterschiedlicher nicht sein können.
Da ist auf der einen Seite ein Filmteam, welches bemüht ist, einen möglichst sauberen Ton aufzuzeichnen und auf der anderen Seite ist da ein ganzes Heer von Gärtnern, Handwerkern, Bauarbeitern, Dienstmännern, Telefonarbeitern etc. die es irgendwie immer wieder schaffen, genau dann zur Stelle zu sein, wenn ein bestimmter Ort für kurze Zeit zu einem Drehort wird.
Es ist schon von sanfter Absurdität, wenn da in der ruhigen Seitenstraße gleichzeitig drei Straßenreinigungsfahrzeuge stundenlang immer wieder zu oder von dem Drehort weg ihre selbstfahrenden Ministraßensauger lautstark vorbeilenken.
Oder wenn in der Grünanlage neben dem Eingang zum Wohnhaus, aus dem der Hauptdarsteller kommen muss, nicht nur ein, sondern gleich zwei Männer mit Benzinrasenmähern ihrer unüberhörbaren Arbeit nachgehen.
Oder wenn unmittelbar neben den Schaufensterscheiben des Ladens, in dem man gerade dreht, ein Bauarbeiter neue Pflastersteine verlegt und hin und wieder auch mit einer Trennscheibe zurechtschneidet.
Selbst an eigentlich ruhigen Innenmotiven kann man Gift darauf nehmen, dass just wenn man wichtige, ruhige Dialogszenen drehen will, wahlweise mehrere Leute dringende und natürlich ausdrucksvoll laute Telefonate führen müssen oder irgendwer den Kickerspieler im Nebenraum malträtiert. Oder in der Etage drüber werden mit Hilfe von drei Presslufthämmern dringend zwei Wände eingerissen.
Alles Zufall?
Irgendwie erinnert einen das an das berühmte Marmeladenbrot, das bei Sturz vom Teller immer auf die Marmeladenseite fällt, oder das weiße Hemd / die weiße Bluse, die man immer dann gerad trägt, wenn es Pasta mit Tomatensoße gibt.
Terry Gilliams gescheiterter erster Versuch, Don Quixote in Spanien zu verfilmen, litt unter Anderem darunter, dass über dem Hauptdrehort, von dem zugesagt wurde, dass nur einmal am Tag ein Militärflugzeug darüber fliegen würde, im 10-Minuten Rhythmus Kampfjets flogen.
Jeder professionelle Tonmensch kann unzählige Beispiele dieser Art beitragen und hat auch keine Erklärung dafür, weshalb es scheinbar so schwierig ist, diesen akustischen Nervensägen aus dem Weg zu gehen. Müssen die wirklich nur zufällig an unserem Drehtag ihre laute Tätigkeit ausüben, oder steckt da System dahinter?
Woher nur wissen diese Tonquäler nur so genau, dass man gerade heut und genau an diesem Ort dreht und absolute Ruhe braucht? Gibt es so eine Art App, wo die alle nachschauen können, wie sie den maximalen akustischen Schaden anrichten können? Gibt es eine heimliche Preisliste, wie viel sie unter der Hand verlangen, wenn sie ihren Laubbläser für das Filmteam ausgeschaltet lassen?
Lösungsansätze
Nein, Flucht ist nicht immer möglich. Oft ist das Motiv visuell so wichtig und eine Alternative schlichtweg nicht so kurzfristig zu organisieren. Zunächst einmal sollte man natürlich versuchen, die Richtwirkung des Mikrofons zu nutzen und so zu angeln, dass die Lärmquelle auf der entgegengesetzten Seite der Mikrofonmembran liegt. Aber das wird den akustischen Schmerz nur lindern, ihn aber nicht abstellen.
Manchmal lassen sich die Krachmacher zu kleinen Pausen bei ihrem Tun überreden. Dazu braucht es aber ungeheure Disziplin auf beiden Seiten und vor allem zwei Walkie Talkies, eines für den Lärmverursacher und eines für den Set-AL (Set-Aufnahmeleiter-in) oder die Regieassistenz. Auf jeden Fall muss Jemand am Set sehr präzise der anderen Seite mitteilen, wann weitergelärmt werden kann und wann wieder Ruhe benötigt wird.
Oft nämlich geht ein Set-Al einmal zu den Arbeitern hin, bittet um Ruhe, die dann auch nach viel Überredungskunst eingehalten wird, aber leider vergisst man dann, den Arbeitern mitzuteilen, dass der Take im Kasten ist und sie in der Umbauphase weitermachen können. Irgendwann platzt denen dann nach langem Warten der Kragen und sie sind dann für den Rest des Drehtages nicht mehr ansprechbar.
Primärton
Wenn es gar nicht anders geht, dann wird trotz Lärm oder Störung aufgenommen. So wie man eigentlich immer den Ton mitnehmen sollte. Selbst wenn klar wird, die Störung ist unüberhörbar.
Jeder weiß, dass der Ton höchstwahrscheinlich nicht verwendbar sein wird, und im Fall von Dialog sogar ein extra Synchrontag für die Schauspieler fällig wird. Auf jeden Fall kennzeichnet man derartige Aufnahmen als Primärton, indem man ein P.T. auf die Klappe schreibt, dort unten, wo Angaben zum Ton gemacht werden. Dann wissen auch die Cutter-innen, was sie von dem angelegten Ton zu halten haben.
Das gilt übrigens auch, wenn es mal nicht um Gärtner oder Bauarbeiter geht. Auch wenn man an einem ruhigen Motiv eine Fahrt macht und die Parkettdielen knarzen rekordverdächtig oder wenn der Lüfter der überhitzten Video-Digitalkamera laut vor sich hin lüftet, überall dort wird "PT" auf die Klappe geschrieben und bei der Ansage laut "Primärton" nach der Klappennummer gesagt.
Eine wichtige Aufgabe des Primärtons ist nämlich, den Cuttern oder Soundleuten einen Eindruck zu vermitteln, wie es geklungen hat und wie sie den Ton akustisch sauber und ohne Laubbläser etc. nachbauen müssen.
Nurton
Die Tonleute können, falls dann doch mal Ruhe einkehrt, auch sogenannte Nur-Töne aufnehmen, das sind die gleichen Bewegungen oder Schritte, notfalls auch Sätze oder Worte, wie sie in dem Take vorgekommen sind. Das "Nur"- im Nurton erklärt, dass dabei keine Kamera mitläuft.
Oft helfen solche Nur-Töne dann beim Tonschnitt, den lärmbelasteten Ton auszutauschen und die Nurtöne so gut es geht synchron hin zu schneiden.
Vorausschauend Planen
Es klingt albern, aber man sollte bei der Auswahl von Drehorten die Motivgeber ruhig fragen, ob für die Drehzeit irgendwelche Baustellen, Reparaturarbeiten, Gärtnerarbeiten oder auch einfach nur Müllabholung etc. vorhersehbar sind. Viele spätere Probleme am Set lassen sich nämlich durch bessere Drehplanung im Vorfeld vermeiden.