Fernsehen schreibt Dokumentarfilmgeschichte
Vom Süddeutschen Rundfunk ging, beginnend in den 60er Jahren eine bedeutende dokumentarische Bewegung aus, die sogenannte Stuttgarter Dokumentarfilmschule. Sie war stark beeinflusst vom Gedanken der entfesselten Kamera, vom Direct Cinema.
Ihre wichtigsten Vertreter waren Michael Mrakitsch, Roman Brodmann, Wilhelm Bittorf, Peter Dreesen, Georg Friedel, Peter Nestler, Helmut Greulich, Corinne Pulver, Dieter Ertel, Elmar Hügler sowie der Leiter der Dokumentarabteilung des Süddeutschen Rundfunks, Heinz Huber.
Die Themen ihrer Filme beleuchteten deutsche aber auch schweizerische Wirklichkeit selbst in scheinbar banalen Umfeldern wie dem Abschlussball einer Tanzschule oder in einem Schützenverein einer Kleinstadt. Themen wie Autokult, Bausünden, Karneval oder auch eine Misswahl drangen tief in deutsche Realitäten ein.
Die inneren Befindlichkeiten der Deutschen in den 60er Jahren, ihre Unfähigkeiten, die Geschehnisse der NS-Zeit sinnvoll aufzuarbeiten, die konservativen Grundhaltungen, der Rückzug in die Familie, all dies waren Themen, mit denen sich die kritischen Dokumentaristen rund um den Süddeutschen Rundfunk beschäftigten.
Die Reihe nannte sich "Zeichen der Zeit" und war geprägt von einem die Realität nicht beschönigenden und dadurch allein schon kritischen Ansatz. Dieser versuchte bewusst gegen die Tradition der NS-Propagandafilme mit ihrer Überhöhung des Alltäglichen die überraschende Banalität muffiger Wohnstuben und unkritischer Bürgerlichkeit zu setzen. Ironische Kommentare und entlarvende Montagen gehörten zu den wichtigsten Stilmitteln der Zeitdokumente aus dem deutschen Wirtschaftswunder-Wiederaufbau.
Die Anfänge
Es waren vermutlich ungewöhnliche Konstellationen, welche die Protagonisten dieser Dokumentarfilmschule zusammenführten.
Mit dem ersten langen Film der jungen Dokumentarfilmredaktion "Die deutsche Bundeswehr" (Heinz Huber, 1956, 90 Min.) prägt Heinz Huber bereits in den 50er Jahren den kritischen Grundansatz der künftigen Stuttgarter Dokumentarfilmschule.
Michael Mrakitsch machte mit seinen ersten Dokumentationen für das deutschsprachige Schweizer Fernsehen ebenfalls sehr gemischte Erfahrungen, wechselte zu deutschen Rundfunkanstalten.
Wilhelm Bittorf kam vom Hamburger Nachrichtenmagazin "Spiegel" und gehörte mit zu den ersten Autoren der Stuttgarter Schule.
Roman Brodmann kam aus der Schweiz nach diversen Zensur-Eingriffen durch das Schweizer Fernsehen zum Süddeutschen Rundfunk.
Roman Brodmann
Roman Brodmann war Anfang der 60er Jahre Chefredakteur der "Züricher Woche", kämpfte beständig gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit, und widmete sich in der Hoffnung auf größere Freiheit, dem Dokumentarfilm.
Seine ersten Arbeiten verwirklichte er beim Schweizer Fernsehen, welches ihm zunächst große Freiräume der kritischen und auch satirischen Berichterstattung einräumte.
Seine Magazinsendung wurde in der Folge immer beliebter, wurde aber wegen der kritischen Grundhaltung auch immer stärker kritisiert. Innerhalb von nur zwei Jahren kürzte der Sender seine monatlichen 240 Sendeminuten herunter auf knapp über 30 Minuten. Nachdem er sich in der "Züricher Woche" öffentlich gegen diese Zensur aussprach, wurde er gänzlich aus dem Schweizer Fernsehen verbannt.
Er wechselte zunächst zum gerade aus der Taufe gehobenen ZDF, arbeitete dort als Redakteur für ein kritisches Magazin und wechselte dann 1964 zum Süddeutschen Rundfunk. Dort verwirklichte er für die Reihe "Zeichen der Zeit" zahlreiche herausragende Dokumentarfilme, darunter "Misswahl" (1966), "Polizeistaatsbesuch" (1967) und "Die ausgezeichneten Deutschen" (1973).
Insbesondere sein Film "Polizeistaatsbesuch" über den Besuch des Schah von Persien 1967 und die parallelen Studentenproteste, die prügelnden Sicherheitskräfte des Schahs und die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg gehört wohl zu den wichtigsten Werken dieser Ära.
Wilhelm Bittorf
Er kam vom Hamburger "Spiegel" und galt als besessener Rechercheur, als Kritiker, als Aufdecker. Seine ungewöhnlichen Montagetechniken etwa in "Das schnelle Leben" machten ihn bei Zuschauern und Kritik bekannt. Ungewöhnlich etwa der kritische Blick auf die Rollenmuster der frühen Bundesrepublik. "Die unzufriedenen Frauen", (Wilhelm Bittorf/Helmut Greulich, 1963). Der Untergang der Graf Bismarck - Die letzten Tage einer Kohlenzeche (1967).
Für seinen Film "Die Borussen kommen" erhielt er 1965 den Adolf-Grimme-Preis. Nach dem Auseinanderfallen der Stuttgarter Dokumentarfilm-Redaktion, widmete er sich wieder verstärkt dem Print-Journalismus. Wilhelm Bittorf starb 2002 an den Folgen der Parkinsonschen Krankheit.
Elmar Hügler
Elmar Hügler war die Anbiederung an den Fernsehzuschauer, an Einschaltquoten und Sehgewohnheiten schon sehr früh ein Dorn im Auge. Mit seinen Dokumentarfilmen arbeitete er kritisch gegen das Spießbürgertum, gegen Ungerechtigkeiten und das kritiklose Hinnehmen von gesellschaftlichen Missständen an. "Eine Hochzeit" (1969), "Wegnahme eines Kindes" (1971), "Eine Einberufung" (1970). Später leitete er bei Radio Bremen unter Anderem die Sendereihen "Notizen vom Nachbarn" und "Unter deutschen Dächern"
Michael Mrakitsch
Der gebürtige Nürnberger, der später in Bern aufwuchs, arbeitete zunächst ebenfalls wie Brodmann für das Schweizer Fernsehen. Dabei entstanden Filme wie "Das Leben ist ein Fest" (1962) oder "Zwischen 20 und 30 (Junge Schweizer)" (1962), der vom Fernsehsender nie gesendet und angeblich sogar vernichtet worden ist.
Daraufhin arbeitete Mrakitsch für den WDR, das ZDF und ab Anfang der 70er Jahre mehrmals mit den anderen Vertretern der Stuttgarter Schule an Filmen wie "Lourdes" (1973, Red.: Elmar Hügler), "Djibouti oder Die Gewehre sind nicht geladen, nur nachts" (1974, Red.: Elmar Hügler) oder später nach dem Wechsel von Hügler und Ertel zu Radio Bremen "Drinnen, das ist wie draußen, nur anders" (1977), ein Film über die Psychatrie.
Viele Jahre danach ist er erneut an die Orte dieses Films zurückgekehrt, dabei entstand sein Film "Das nicht eingelöste Versprechen" (1997, Red.: Elmar Hügler).
Wechselhafte Zeiten und Suche
Die Liberalisierung in der deutschen Gesellschaft, nicht zuletzt auch durch die Studentenbewegung ausgelöst, erlaubte die politisch kritische Diskussion in vielen Medien. Damit ging ein guter Teil der Brisanz, die in den Filmen der Stuttgarter Schule verborgen war, verloren. Der Tod des Redaktionsleiters kam hinzu und eine Zeit der Neuorientierung setzte ein. Hügler und Ertel wechselten zu Radio Bremen. Bittorf arbeitete wieder für den Spiegel, schrieb große Reportagen, mehrteilige Serien.
Von der beim süddeutschen Rundfunk gepflegten Idee der ironischen Kommentierung wich Elmar Hügler bei Radio Bremen ab und setzte in seiner Dokumentarreihe "Notizen vom Nachbarn" ganz auf die Kraft des Originaltons.
Die Filme der Stuttgarter Schule sind alle mehr oder weniger verhaftet in ihrer Zeit und in ihrer gestalterischen Form verweisen sie auf den Zuschauer der 60er, 70er Jahre. Zugleich sind sie Zeitdokumente und eröffnen uns heute einen klaren, unverstellten Blick auf ein Stück deutscher Vergangenheit. Sie waren und sind vorbildhaft für zahlreiche heutige Dokumentarfilme und die Besten unter ihnen noch heute absolut sehenswert.