Dokumentarfilm, Regie: Andrea Arnold,
Dauer: 94 Minuten, GB 2020, Produktion: BBC
Andrea Arnolds erster Dokumentarfilm zeigt ruhig beobachtend auf, wie Menschen mit Tieren umgehen. Die englische Regisseurin hat eine Reihe herausragender Spielfilme gemacht, darunter "Red Road", "Fish Tank","Wuthering Heights" oder "American Honey". Mit ihrem langsam und ruhig erzählenden Dokumentarfilm lässt sie uns eintauchen in das Leben der Milchkuh Luma, die auf einer Milchfarm in Kent lebt.
Viele starke Dokumentarfilme lassen sich auf die Perspektive ihrer Protagonist*Innen ein, das hat Andrea Arnold beherzigt und aus der Perspektive ihrer Protagonistin, einer Kuh erzählt. Ein kluger Ansatz der viel Geduld und vor allem Demut vor dem Lebewesen verlangt. Damit unterscheidet sich dieser Film grundsätzlich von anderen Dokumentationen etwa über Missstände in der Milchwirtschaft.
Vier Jahre lang hat sie mit einem winzigen Team das Leben der Kuh aus Sicht des Tieres beobachtet, stets in Augenhöhe mit Luma, die Menschen, die nur selten auftauchen, sind meistens oben abgeschnitten, sind Nebenfiguren, weil wir beim Kopf, den Augen des Tieres bleiben. Damit gelingt es Arnold, die Emotionen des Tieres für die Zuschauer sichtbar zu machen.
Erzählt werden all die wiederkehrenden, zumeist von den Abläufen des Milchbetriebes bestimmten Routinen im Leben des Tieres: Futteraufnahme, das Melken, die Begattung, das Kalben, die Zeit draußen auf der Weide und die Tötung. Ab und an sieht man auch Flugzeuge oder einen Heißluftballon am Himmel, man sieht ein Feuerwerk, Vögel, Eisenbahnen, die Sterne und den Mond, die alle weit über die Enge des Milchbauernhofs hinaus verweisen und vielleicht so etwas wie Symbole für Flucht und Freiheit sind.
Der Film bleibt beobachtend bei Luma und es gelingt dem Film etwas fast Unsichtbares aufzuzeigen: Er macht den Charakter, die Persönlichkeit, die Emotionen dieses Wesens sichtbar und kommt vollständig ohne Kommentar aus. Was denkt, fühlt, was will eine Kuh und was wird mit ihr in so einem familiengeführten Milchbetrieb getan?
Dass das kleine Team viel Zeit und noch mehr Empathie investiert und mit sehr reduzierter Technik gedreht hat, machte einen ganz besonderen Film möglich, der liebevoll und erschütternd zugleich ist. Dabei spielt nicht nur das Bild von Kamerafrau Magda Kowalczyk, sondern auch der Ton und das Sounddesign (Nicolas Becker) eine bedeutende Rolle. Durch die Geräuschebene wird spürbar, wie wuchtig die Tiere sind, wir hören am Atmen, Schnauben, Muhen, wie sie sich fühlen. Und wir begreifen, dass sie selbstverständlich Emotionen haben, auch wenn viele Menschen das mit dem Begriff "Nutztiere" aus Bequemlichkeit und Ignoranz leugnen.
Auf diese Weise versteht man die wenigen Glücksmomente, die Freude, den Unmut, die Angst von Luma, freut sich mit ihr, wenn sie zu Beginn des Frühlings mit den anderen Kühen zusammen auf die Weide darf, trauert mit ihr, wenn ihr wieder ein Kälbchen weggenommen wird. Und man begreift viel darüber, wie die Tierhalter mit den Tieren umgehen, sie leiden lassen, stellvertretend für alle, die Milchprodukte konsumieren und Fleisch essen.
Was Filme leisten können, zeigt sich auch und besonders bei "Cow". Bei diversen Aufführungen des Films haben Zuschauer*Innen geweint, einige sind sogar ohnmächtig geworden. Andrea Arnold hat in ihrem Film Themen wie Tierwohl und artgerechte Landwirtschaft nicht explizit thematisiert, sie beobachtet lediglich, erzählt ganz leise und lässt diese Fragen als Leerstellen in den Zuschauern selbst entstehen. So ist ein starker, nicht einfach zu ertragender und zugleich ungemein politischer Film entstanden, der Luma und all ihren Artgenoss*Innen ein Denkmal setzt.
Wer diesen Film gesehen hat, muss unweigerlich neu über Milch,- und Fleischproduktion nachdenken.
Gesehen von Mathias Allary