Gestiegene Anforderungen
Die Anforderungen an die Tonebene bei Film und Fernsehen haben sich in den vergangenen Jahren stetig erhöht und sind heute für eine anspruchsvolle Produktion bereits erheblich. Insbesondere das akustische Raumempfinden spielt in Zeiten von 5.1 oder 7.1 eine zunehmende Rolle in der Tonbearbeitung. Dabei arbeiten die Tonmeister, was die Dialoge angeht, nach wie vor für die reine Stimmaufnahme (Ton angeln) mit stark gerichteten Monomikrofonen (Hyperniere oder Keule als Richtcharakteristik). Aber wenn es um den sichtbaren Raum im Bild geht, so erwartet der Zuschauer so etwas wie eine genaue Übersetzung in die akustische Räumlichkeit. Das heißt, eine Totale hat vielleicht ein anderes akustisches Raumgefühl als eine Nahaufnahme. Doch Vorsicht! Zu große Sprünge mag der Zuschauer nicht hören, hier muss mit viel Sensibilität und Erfahrung gearbeitet werden. Dabei sind Begriffe wie "stereophone Perspektive”, "Räumlichkeitseindruck“ und "räumliche Ausdehnung” eines Schallereignisses Kriterien der Beurteilung.
Atmos in Stereo
Für die Atmos, aber, die das Raumgefühl vermitteln sollen, verwendet man vorzugsweise Stereo-Mikrofone. Je nach Art des Mikrofonaufbaus werden bei Verwendung von zwei identischen Mikrofonkapseln bei der Aufnahme, bestimmte technische Kriterien wie die Basisbreite des Stereobildes (also die akustisch wahrgenommene Breite oder Weite des Raumes) festgelegt. Das heißt, die Anordnung der beiden Mikrofone legt fest, wie breit das Stereobild später sein wird. Dies ist insofern bedauerlich, als man oftmals erst im Sound-Design oder der Mischung endgültig die akustischen Raumverhältnisse hören kann. Schließlich werden erst dort weitere Kanäle wie Hinten, Links & Rechts (Rear) oder Mitte, Vorne hinzugefügt.
In der klassischen Stereofonie kann man akustische Ereignisse, zum Beispiel eine Stimme oder ein Musikinstrument zwischen den beiden Lautsprechern, welche die Stereoaufnahme später abspielen, beliebig platzieren. Die Stimme kann also auch aus der Mitte zwischen den Lautsprechern zu hören sein, obwohl dort ja gar kein Lautsprecher steht. Dieses Phänomen nennt man Phantomschallquelle. In Kinos haben wir in der Regel vorne drei Lautsprecher, also links, rechts und die Mitte. Während die Atmo meist über den linken und rechten Kanal zu hören ist, kommen die Stimmen der Darsteller meist aus der Mitte. Wenn sich der Tonmeister bei der Aufnahme eine bestimmte Basisbreite festgelegt hat (dies geschieht durch den Winkel und den Abstand der beiden gleichen Mikrofonkapseln zueinander), lässt sich daran in der Mischung nicht mehr viel ändern.
Geniale Problemlösung
Anders verhält es sich bei der sogenannten MS-Stereofonie (Mitte-Seiten-Stereofonie), die arbeitet im Gegensatz zur klassischen Stereoaufnahme (Intensitäts- oder Laufzeitstereofonie) mit zwei unterschiedlichen Mikrofonkapseln, einer Niere und einer Acht. Während die Niere strickt nach vorne ausgerichtet ist (also der M-Kanal), sitzt dahinter oder darüber (Vorzugsweise möglichst nah beieinander, falls übereinander auf der gleichen Achse) eine sogenannte Acht (der S-Kanal), also eine Kapsel die nach links und rechts, aber nicht nach vorne und hinten empfindlich ist.
Wenn man kein dezidiertes MS Mikrofon kaufen möchte, kann man auch ein kleines Mikrofon mit Achter-Richtcharakteristik (zum Beispiel von Schoeps oder das kleine "Emesser" von Ambient) über einen kleinen Adapter-Clip, erhältlich etwa bei Rycote unter der Bezeichnung "Rycote-Clip" auf ein vielleicht schon vorhandenes Mikrofon mit Nieren,- oder Keulencharakteristik aufsetzen..
Das Ergebnis sind Stereoaufnahmen, bei denen man später in der Vertonung oder Mischung jede beliebige Basisbreite im Hörbild geben kann. Von weitem Stereobild bis hin zu engem Mono ist dann dank einer sogenannten MS-Matrix im Mischpult alles möglich. Sie verwendet die Anteile und Phasenlage der Tonsignale, um daraus klare Links/Rechts-Kanäle zu generieren. Beim Abmischen wird durch den Lautstärkeanteil des S-Signals (also die Achter-Mikrofonkapsel) der Aufnahmewinkel und die Breite des Stereobildes nachträglich bestimmt.
Falls das Mischpult keine Matrixschaltung besitzt, ist das kein Beinbruch. Man kann diese auch leicht mit drei Mischpultkanälen erzeugen. Das S-Signal wird einmal ganz normal auf den linken Kanal (Panoramaregler auf Links) und noch einmal phasengedreht (dafür haben viele Pulte einen Umschalter, sonst Stecker umlöten, XLR: Pin 2 und 3 vertauschen) auf den rechten Kanal (Panoramaregler auf Rechts) gegeben. Das M-Signal wird phasenrichtig an einen weiteren Eingang angeschlossen und zu gleichen Anteilen beiden Stereokanälen zugemischt (Panoramaregler mittig).
Aufnahmen
Man kann einen solchen Aufbau mit einzelnen Kapseln erreichen oder auch bereits fertige MS-Mikrofone verwenden. Diese haben dann ein Kabel mit zwei XLR-Steckern, die man dann an die beiden Stereokanäle des Aufnahmegerätes oder eines Mischpultes anschließen kann. Damit man das Signal bei der Aufnahme bereits richtig beurteilen kann, haben professionelle Mischpulte oder Rekorder häufig eine eingebaute MS-Matrix im Kopfhörerverstärker. Leider erlaubt es die andere Richtcharakteristik (Niere statt Keule) nicht, dass man mit MS-Mikrofonen sinnvoll Dialoge angelt. Das sollte man nur im Notfall tun. Ihre Richtwirkung reicht dafür nicht aus und zudem sind sie ja dafür gedacht, auch zu den Seiten hin empfindlich zu sein.
MS Reloaded
Längst hat man an diversen Filmsets der Welt Erfahrungen gesammelt mit diversen Mirkofonaufhängungen, die eine Verwendung von fünf einzelnen Mikrofonen erlauben, also die Aufnahme von Surround. Wer je so eine Aufhängung samt Tonangel gesehen hat, begreift, weshalb dieses Verfahren bei den Anwendern nicht auf allzu viel Gegenliebe gestoßen ist. Erste Versuche mit mehreren MS-Systemen, die gleichzeitig in alle Richtungen aufnehmen hat man deshalb zur Reduzierung des Aufwands gebaut, doch zumeist mussten umständliche Schaltkästen mit Elektronik an die Systeme angeschlossen werden.
Findige Techniker haben sich das MS-Prinzip genauer angeschaut und inzwischen doppelte MS-Systeme hergestellt, die in einem einzigen Gehäuse die Aufnahme von fünf Richtungskanälen zulassen. Damit ist für viele Tonmeister ein Traum wahr geworden, der an ruhigen Drehorten traumhafte akustische Welten entstehen lässt, an unruhigen, nicht so idealen Drehorten aber natürlich jedes Störgeräusch mit aufzeichnet. So manche Atmo muss dann in der Nacht aufgenommen werden, um überhaupt eine Chance zu haben. Und dennoch: Die neuen Mikrofone bieten Möglichkeiten, welche mit den Vier- und Achtspur-Festplatten oder Flash-Rekordern erst sinnvoll anwendbar geworden sind. Und es sind enge Verwandte von den Ambisonics-Mikrofonen mit denen man auch den Ton für Virtual-Reality Filme aufzeichnet. Auf jeden Fall bieten diese Mikrofone ein neuartiges Raumgefühl. Demnächst in Ihrem Kino...