Interview mit Vitaly Melnikov
Zu seiner Arbeitsweise und seinem Film "Agitbrigada"
MC: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diesen Film zu drehen?
VM: Zufällig. Vollkommen zufällig. Nur die jungen Leute denken oft, dass man das über eine lange Zeit plant, darüber eine lange Zeit nachdenkt. Aber in Wirklichkeit kommt einem irgendwann eine Idee und dann versucht man, diese zu entwickeln.
MC: Sie sagten, dass Sie selber diese Zeit, die Sie in Ihrem Film beschreiben, erlebt haben ...
VM: Auch darin, dass ich dies getan habe, liegt ein Zufall. Ich war einmal bei einem Filmfestival ziemlich weit in Sibirien, in einer Stadt, die sich sehr weit von Moskau entfernt befindet. Diese Stadt heißt Chanti-Mansisk. Vor langer, langer Zeit, während des Krieges, war dieser Ort vollkommen unbekannt, es war eine ganz kleine Stadt. Nun, seitdem man dort Öl entdeckt hat, ist die Stadt sehr bekannt geworden. Der Leiter der Stadt, der Bürgermeister der Stadt, hat erfahren, dass ich als kleiner Junge mit meiner Familie als Gefangener dort gelebt habe. Und er hat gesagt: „Seien Sie bitte so nett und machen Sie einen Film über diese Zeit, als Sie hier gewesen sind, zeigen Sie, wie es hier war. Das wäre für uns sehr wichtig und es wird für alle anderen sehr interessant sein." Ehrlich gesagt, ich habe mich nicht oft an diese Zeit erinnert. Es war nicht die beste Zeit meines Lebens, es war nicht die einfachste Zeit in meinem Leben. Und ich hatte nie geplant, einen Film über sie zu machen. Aber wir haben mehr und mehr über diese Zeit gesprochen, haben uns mehr und mehr erinnert, und dann habe ich gedacht, dass es wahrscheinlich auch interessant für die jüngeren Leute sein könnte. Wir leben in einer Welt, in der diese Probleme: Wie kann man einander verstehen, wie kann man einander hören, nicht verschwunden, sondern noch tiefer geworden sind. Die Beziehungen zwischen den Nationalitäten – und was heißt dieses Wort: Die Macht, die Diktatur? Was heißt es, wenn jemand eine Macht hat, die keine Grenzen besitzt?
Wir waren Feinde – Deutsche und Russen. Aber damals habe ich schon gedacht: Es ist alles so ähnlich dort wie bei uns. Obwohl ich ein Russe bin, ein sowjetischer Mensch, aber ich dachte: Alles ziemlich ähnlich. Beide Diktaturen versuchten dem Volk einzureden, dass es das ideale Volk wäre. Beide, Stalin und Hitler versprachen ihrem Volk ein Paradies auf Erden. Beide Länder wollten ihre Ziele mit denselben harten Methoden verwirklichen. Es war alles ziemlich gleich.
Ich würde den Zuschauer gerne zum Nachdenken darüber anregen, wie es damals war und wie es heute ist – in Deutschland und in Russland.
MC: Ist „Agitbrigada" auch in irgendeiner Form ein Film über das heutige Russland?
VM: Natürlich. Ich spreche mit dem Zuschauer, der heute im Kino sitzt. Ich möchte dem Zuschauer verdeutlichen, wie wichtig ein einzelnes Leben, eine einzelne Seele ist. Das wichtigste ist der Mensch. Es gibt keine Idee, die das Recht hätte, einen Menschen umzubringen. Das Leben ist viel wichtiger als eine Idee.
MC: Inwieweit sehen Sie im heutigen Russland auch eine Idee?
VM: Es gibt eine einzige Idee, die alle Leute teilen, die jedes Volk teilt: Wir alle möchten gerne ein ruhiges, angenehmes Leben haben, ohne Gewalt, ohne Druck von oben. Das ist in Russland ebenso wichtig wie überall in der Welt.
MC: Bestanden die Agitbrigaden aus Leuten, die selbst Probleme mit dem Staat hatten?
VM: Ja. Es war ein Paradox. Alle Teilnehmer der Brigade haben die Staatsordnung nicht gerade geschätzt. Aber sie sollten zur Ehre der Macht des Landes die agitatorische Arbeit machen, das ist ein Problem, welches ähnlich im Faschismus und im Kommunismus bestand: Der Mensch ist total unterdrückt, und die Macht diktiert den Menschen alles, was sie denken und machen sollen.
MC: Wie lange haben die Agitbrigaden miteinander verbracht?
VM: Zwischen eineinhalb und zwei Monaten. Sie sind auf dem Boot von einem Dorf zum nächsten gezogen. Dort haben sie von der Front berichtet und ihre Agitarbeit gemacht, dass heißt, die Menschen zur Arbeit angespornt, damit der Sieg auch bald zu ihnen käme. Hier ähneln die Losungen und Plakate auch sehr denen des Hitlerfaschismus.
MC: Sind die Erinnerungen an die Agitbrigaden traurige und skurrile Erinnerungen zugleich?
Übersetzerin: Für ihn? Er war selbst in dieser Agitbrigade. Er war der kleine Filmvorführer. Das war der Herr Melnikov.
MC: Er war wer?
Übersetzerin: Dieser Filmvorführer, dieser Junge.
MC: Der jüngste Junge?
Übersetzerin: Ja, das war Herr Melnikov in dieser Zeit. Das haben Sie nicht mitbekommen?
MC: Das habe ich nicht gewusst, dass er das war.
Übersetzerin: Das war er. (Sie richtet sich an Herrn Melnikov)
VM: Ja. Und da gibt es noch einen Jungen im Film, einen deutschen Jungen. Das war mein bester Freund während des Krieges. Als wir zusammen in dem Dorf gewohnt haben, waren wir gemeinsam in der Klasse und sind die besten Freunde gewesen. Das ist noch ein Paradox. Der Krieg hat es nie geschafft, die menschlichen Beziehungen zu zerstören. Der Name des Jungen war Tringel und ich glaube, er ist von einem Jahr gestorben. Er hat immer in Sibirien gewohnt, er hat den Kindern irgendwo in der Taiga dort Deutsch beigebracht.
MC: Was wurde aus den Mitgliedern der Agitbrigaden, wenn ihre Aufgabe erfüllt war?
VM: Es konnte ein sehr schlechtes Ende für alle Teilnehmer der Agitbrigaden geben. Man konnte zufälligerweise sterben oder man bekam das Verbot, den Ort, an dem man sich gerade aufhielt, zu verlassen. Ich war zwölf Jahre alt, als ich in die Agitbrigade kam. Mein Vater war erschossen worden, mein Großvater auch. Und in dieser Zeit gab es ein Programm der regionalen Politik, nachdem die Kinder den Eltern weggenommen und ins Internat gesteckt werden sollten.
MC: Wie sind Sie nach Sibirien gekommen?
VM: Wir (meine Mutter und ich) sind selbst nach Sibirien gefahren bis in die Nähe von China und von dort zusammen bis hoch in den Norden. Das war die einzige Rettung für mich.
MC: War die Geschichte mit den zwei Pistolen auch eine Erinnerung von ihnen?
VM: Ja, genau, und der Junge Tringel, der war der zweite Teilnehmer dieser Geschichte.
MC: Da wurde ja eigentlich etwas sehr trauriges erzählt, da der Junge ein körperliches Problem hatte und sich durch das Duell doch wie ein Mann benehmen wollte ...
VM: Genau. Ein Bein war etwas kürzer als das andere. Und er musste deshalb andere Arbeiten verrichten.
MC: Man musste ja in der damaligen Zeit damit rechnen, dass man sein Leben verlor. Wurde man gleichgültiger gegenüber dem Tod?
VM: Der Mensch ist etwas besonderes. Die Menschen gewöhnen sich an diese Art, zu leben, und die Hauptkraft war die Hoffnung, dass alles eines Tages ein Ende findet.
MC: Als ich den Film sah, hatte ich den Eindruck, dass die vier Mitglieder der Agitbrigade sehr wenig Angst vor dem für sie verantwortlichen Offizier hatten.
VM: Es gibt immer die Beziehung zwischen den Opfern und ihren Richtern. Irgendwann müssen sie versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Es kann passieren, dass die Richter nicht stark oder glücklich sein, sondern dumm, und es passiert, dass sich das Opfer nicht als Opfer sieht, sondern sich stärker fühlt als der Richter.
MC: Aber waren sich die Mitglieder der Agitbrigade der Konsequenzen, also der Möglichkeit, ihr Leben zu verlieren, bewusst?
VM: Natürlich. Diese Möglichkeit musste jeder in Betracht ziehen. Das war ein Teil des Lebens. Jeder wusste, es konnte so kommen, es konnte passieren, dass ich hingerichtet werde.
MC: Wußte man von den Lagern?
VM: Nein. Man konnte sich nicht vorstellen, dass es sie in dieser Menge gab. Als der Krieg beendet war, fing das Leben an, es war Frieden. Die Macht hat die Wahrheit verborgen.
MC: Hat man in der Verbannung mitbekommen, wie viele Leute hingerichtet wurden?
VM: Nein, wir hatten keine Ahnung. Ich habe dort einige Zeit gelebt, ich habe gedacht, dass es nur hier, wo ich wohne, so schlimm ist. Es gab überhaupt keine Informationen, wir waren vollkommen uninformiert.
MC: Haben Sie die im Film vorkommenden Dörfer beziehungsweise Gehöfte nachgebaut oder in vorhandenen gedreht?
VM: Sowohl als auch. Einige haben wir nachgebaut, wo echte Dörfer waren, haben wir dort gedreht. Die Kirche und einige kleinere Häuser waren echt. Die Statisten bestanden oft aus den dort lebenden Bauern. Ihnen gefiel die Idee des Films und deshalb haben sie im Spiel mitgespielt.
MC: Wie lange haben die Dreharbeiten gedauert?
VM: Zwei Monate.
MC: War es schwer, Menschen zu finden, die sich an die Zeit, in der der Film spielt, noch erinnern können?
VM: Über diese Zeit weiß ich viel mehr als jeder andere. Dieser Film ist eine Erinnerung.
MC: Und wie wurde der Film finanziert?
VM: Teilweise vom Staat, teilweise von Privatfirmen, besonders Firmen aus der Stadt Chanti-Mansisk, die uns sehr viel Geld gegeben haben. Dadurch wurde es für uns möglich, den Film zu verwirklichen.
MC: Gab es Überraschungen während des Drehs?
VM: Wenn man anfängt, einen Film zu drehen, hat man sich alles schon ausgedacht, alles ist auf dem Papier. Aber dann, in Wirklichkeit, passiert vieles so, wie man es nicht geplant hat. Man muß immer damit rechnen, dass etwas Unerwartetes passiert. Das muß man auf seine Seite ziehen und es für sich nutzen. Als Regisseur muß man frei sein, man muß bereit sein, etwas zu ändern, obwohl man etwas anderes geplant hat. Man muß sehr schnell auf die Realität des Lebens reagieren.
MC: Man muß also als Regisseur ein Improvisateur sein?
VM: Ohne dass kann man den Film überhaupt nicht machen. Sonst wird er ein Protokoll, welches früher ausgedacht worden ist. Alles, was früher ausgedacht wurde, ist immer etwas begrenztes. Was das Leben dagegen für uns bringt, hat keine Grenzen.
MC: Wie wichtig ist dabei das Team?
VM: Das ist eine ganz wichtige Frage. Als ich begann, Filme zu drehen, habe ich gedacht, ich bin Regisseur: Das bedeutet Kraft, Willen, alle müssen nach meiner Pfeife tanzen. So dachte ich am Anfang. Mit der Zeit habe ich verstanden, die Kunst der Regiearbeit ist eine Kunst, seine Arbeit ganz leise zu machen. Alle müssen denken, dass alles von alleine geht. Man muß seinen Einfluß ganz sensibel und leise auf die anderen Menschen übertragen, ohne dass sie es merken. Das Filmteam sind nicht nur die Leute, die die ganze Zeit arbeiten. Das sind Menschen, sie haben einen eigenen Geschmack, sie haben einen eigenen Willen, ihre eigenen Launen. Man muß so arbeiten, dass das Team immer auf Deiner Seite ist, ohne dass sie es merken. Das ist die Hauptaufgabe des Regisseurs.
MC: Was wird Ihr nächstes Projekt sein?
VM: Ich möchte gerne einen Film über Tschechow machen. Über die Liebe des Herrn Tschechow. Er war ein ganz verschlossener Mensch, er wollte nie etwas über sich erzählen. Diese Liebe kam zu ihm, als er schon 40 Jahre alt war. Er hat gewusst, dass er Tuberkulose hatte und sterben musste, er war ja selbst Arzt. Und genau in dieser Zeit kam zu ihm die Liebe. Wahrscheinlich die erste, wahrscheinlich die letzte. Ich benutze für mein Drehbuch die Briefe Tschechows, die Erinnerungen von Iwan Bunin und die Erinnerungen der Frau, mit der er diese Romanze hatte. So ist die Geschichte, sehen wir, was rauskommt.
MC: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Paul Mittelsdorf
Links: Filmkritik "Agitbrigada"