Auch das Cinéma Vérité bricht mit dem alten Dokumentarfilm etwa in der gleichen Zeit wie das Direct Cinema. In Frankreich führen die technischen Erneuerungen aber zu einem nahezu gegensätzlichen Ansatz. Allerdings haben sich die beiden Ansätze nebeneinander selbstständig und nicht als jeweilige Antwort aufeinander entwickelt.
Die Triebfeder des Cinéma Vérité ist nicht der Journalismus, aus dem das Direct Cinema entsprungen ist, sondern die Ethnologie bzw. Soziologie. Namenhafte Vertreter wurden Jean Rouch, Ingenieur und zu der Zeit Doktorand der Literatur, der schon mehrere ethnologische Filme gedreht hatte, und Edgar Morin, Soziologe.
Bekannt wurden sie vor allem mit ihrem 1960 gedrehten "Chronique d'un été", der den Untertitel "une experience de cinéma vérité" trägt. Der Film besteht hauptsächlich aus Interviews mit verschiedenen Bewohnern von Paris. Ziel war es, herauszufinden, wie die Pariser in ihrer Stadt leben und von ihnen Äußerungen zu provozieren, die sie normalerweise unterdrücken. Es sollte eine wissenschaftliche Studie werden. Ein geschichtliches, bildhaftes Dokument, ein soziologisches Fresko.
Nach diesen ersten Primärinterviews konfrontierten die Filmemacher ihre Protagonisten mit den Aufnahmen. Ihre Reaktionen wurden später in den Film mit aufgenommen, nicht nur weil sie die Protagonisten dazu veranlassen wollten, ihre Aussagen zu hinterfragen, sondern um dem Film auch ein selbstreflexives Moment zu verleihen. Anders als das Direct Cinema bezweifeln Rouch und Morin, dass durch das Abfilmen der Wirklichkeit tatsächlich Wahrheit übermittelt wird. Vor allem Rouch interessiert sich nicht für eine abgebildete Wirklichkeit, sondern für die Wahrheit, die er unter der Oberfläche verborgen glaubt und sie mit Extremsituationen sichtbar zu machen versucht. Diese Annahme ist der Grundansatz des Cinéma Vérité. Da der Dokumentarfilm hier im Dienste eines sozialen Experiments - Scheitern ausdrücklich mit eingeschlossen - steht, ist alles erlaubt, was dem Experiment nützlich ist.
Schon hier wird ein Unterschied zum Direct Cinema ersichtlich. Im Direct Cinema bestand sozusagen ein Manifest mit bestimmten Regeln. Rouch und Morin dagegen passten ihre jeweiligen Methoden dem Gegenstand des Films an. Wenn sie nicht das gewünschte Ergebnis erbrachten, konnten sie durchaus auch variiert werden. Im Mittelpunkt dieser Arbeitsweise stand das Herbeiführen vom Alltag abweichenden Situationen, um die verborgene Wahrheit hervorzukehren. So bemerkt Barnouw "The direct cinema documentarist took his camera to a situation and waited hopefully for a crisis; the Rouch version of cinema vérité tried to precipitate one" (Barnouw, 1974). Und weiter führt er aus, dass wenn man das Direct Cinema unter dem Stichwort "observer" zusammenfasst, das Cinéma Vérité als "catalyst" begreifen muss. Sind die einen bloße "bystander", sind die anderen "provocateurs".
Die Filmemacher des Cinéma Vérité sind wesentlich aktiver, greifen in das Geschehen nicht nur ein oder rufen dieses herbei. Sie sind oft auch ein Teil davon und nicht selten sogar auch vor der Kamera, was bei dem Diktum des Direct Cinema vollkommen unmöglich war, wollte man den Anspruch auf abgebildeter, objektiver Realität doch wahren. Rouch und Morin haben einen deutlich selbstreflexiven Umgang mit dem Medium, da sie direkt auf die Kamera aufmerksam machen. Sie provozieren das Geschehen und die Protagonisten sind sich jeder Zeit bewusst, dass sie gefilmt werden. Dies steht ebenfalls gegensätzlich zum Direct Cinema, war man dort doch dabei bemüht, den natürlichen Lauf der Dinge nicht zu verändert und hielt sich aus dem Grund auch konsequent zurück.