Movie-College: Gibt es ein Rezept, dass du dir über die Jahre hin angeeignet hast, wie man Rollen erarbeitet? Beim Film kommt ja noch dazu, dass man nicht chronologisch dreht, man springt zwischen verschiedenen Szenen in der Handlung hin und her. Dabei kann man sich wahrscheinlich nur schwer in eine Rolle einfühlen und in deren Entwicklung. Wie kommt man damit zurecht, wenn man nicht mit der Rolle wachsen und sich mitentwickeln kann, vom Anfang bis zum Ende.
Nicole Ansari: Es ist schon so, dass man vorher die Arbeit machen muss, von vorne bis hinten. Man muss vorher schon emotional, alles was im Drehbuch; der Geschichte vorkommt, innerlich gelebt haben. Und man musst wissen, wo du, bzw. die Figur damit hin will, so dass man nicht überrascht ist: ‚Oh, jetzt kommt das! Wie machen wir das denn jetzt?' Das muss vor dem Dreh schon passieren, so dass es eine Verwurzelung in einem selbst gibt, dass es dann auch parat ist, wenn es dran kommt. Es gibt kein Rezept. Ich habe in Deutschland studiert und bin dann nach Amerika gegangen, nachdem ich zwei Jahre in Zürich gespielt hatte, weil ich unglücklich war. Mir ging das alles nicht tief genug. Ich wollte lernen, wie ich die emotionale Bindung schaffen kann. In Amerika habe ich am Actor's Studio studiert, und Method Acting gemacht, wo es wirklich darum geht, dass du der Charakter bist. Dann gibt es auch keine Distanz mehr. Das kann einen ganz schön fertig machen.
Dann kam ich nach Deutschland zurück und habe einen Fernsehfilm gemacht und landete in Frankreich beim Théâtre du Soleil von Mnouchkine, nach einem Marathonvorsprechen von drei Monaten. Bei der zweiten Improvisation, habe ich Method Acting, das sehr realistische, angewandt, und darauf hat die mich angeschrieen: "Hör auf mit dem blöden Realismus. Das hasse ich und wenn du das noch mal machst, kannst du das Gebäude sofort verlassen." Ich war völlig verstört, weil ich dachte, dass es darum doch die ganze Zeit ging. Das, was ich gelernt hatte, war da plötzlich völlig out. Théâtre du Soleil arbeitet mit großen Kunstmitteln, mit Masken, mit sehr vielen orientalischen Einflüssen… Ich war total fertig und habe ein paar Tage gar nicht gewusst, was ich machen soll, bis ich dann mit ihr gesprochen habe. Dort geht es um etwas anderes, um etwas Künstlerisches, um eine Kunstform, nicht um Realismus. Ich habe mich darauf eingelassen und es war wieder etwas völlig anderes. Ich war vorher mit dem Method so sehr verbunden, dass ich dachte, man kann gar nicht mehr anders arbeiten. Man muss das Tier des Charakters finden und die Kindheit rekonstruieren und das macht man dann auch.
Bei irgendetwas hatte ich aber dann keine Zeit mich vorzubereiten und habe mir einen Kopf gemacht, bis ich dann alles über den Haufen warf. Ich hab das Drehbuch noch mal nach Instinkt gelesen und gemerkt, dass mein Ding Instinkt ist. Wenn die Rolle etwas mit mir zu tun hat, dann saug ich das auf wie ein Schwamm und der Instinkt führt mich dann auch in die richtige Richtung, wo ich beim Arbeiten einfach nur sein muss. Method hat etwas als Fundament gebracht, um die Tür aufzumachen zu dem emotionalen Werkzeug. Aber dann muss man es wegwerfen, sonst wird es Arbeit und ich sehe das immer wieder bei Leuten, die Method benutzen. Da sieht man, dass sie arbeiten. Aber das kann ja nicht der Sinn sein vom Spielen, dass andere erkennen, dass man sich abrackert.
Movie-College: Das ist ja so eine zweischneidige Sache. Es gibt Regisseure, die das Realistische wollen und andere wieder nicht. Muss man denn als Schauspieler alles persönlich erlebt haben, was man später auch darstellt, oder gibt es auch Dinge mit denen man nichts anfangen kann, sich aber trotzdem irgendwie aneignet. Das emotionale Werkzeug, wie Du das gesagt hast, entsteht ja vor allem durch die eigene Erfahrung. Wenn das jetzt vollkommen fehlt, worauf greift man dann zurück?
Nicole Ansari: Auf das "Was wäre wenn?" Was wäre, wenn ich als Kind vergewaltigt worden oder auf den Strich gegangen wäre? Was wäre dann aus meinem Leben geworden? Wie hätte ich mich emotional dazu verhalten? Was wäre, wenn ich aus irgendeinem Grund angefangen hätte, zu morden und plötzlich Lust daran empfunden hätte? Was wäre, wenn ich zur Serienmörderin werde, weil es das einzige ist, was mich spüren lässt? Oder wenn ich ganz arm wäre und auf der Straße leben müsste? Meine Lehrerin am Actor's Studio hat immer gesagt, dass der Mensch bis zum Alter von 25 emotional alles erlebt hat, was er erlebt haben muss, um etwas darzustellen. Und es muss auch nicht das sein, was man dann auch darstellt. Das wäre ja absurd. Anthony Hopkins hat ja auch nicht erst Leute umgebracht, bevor er Hannibal Lector spielen konnte. Außerdem wird damit etwas reduziert auf das eigene Erlebnis.
Es gibt Leute, die denken, dass Schauspiel so läuft, dass man alles in dem Moment erleben muss. Das ist für mich dann aber keine Kunst mehr. Da kann man irgendjemanden nehmen, der ein bisschen offen und ein bisschen masochistisch veranlagt ist. Den in die Hölle führen und sagen, das ist jetzt großartige Kunst. Was ja auch schon in ein paar Filmen passiert ist. Was auch debattiert wird. Ist dieser Mensch oder dieser Schauspieler, diese Schauspielerin jetzt großartig oder ist er nur zu Tode gequält worden vom Regisseur? Ich finde, dass man das sehen kann, ob jemand eine künstlerische Distanz trotzdem bewahrt.
Movie-College: Das ist auch das, was wir schon besprochen haben. Die Tendenz besteht Menschen von der Straße zu nehmen, die in die Rolle passen, die im Leben diese Rollen sind, aber nicht die Facetten aufweisen. Und dadurch der Beruf des Schauspielers in der Öffentlichkeit etwas entwertet wird.
Nicole Ansari: Ja, das ist eine große Tragik, die passiert, auch durch das ganze Reality-Zeug, dass mittlerweile jeder ein Superstar sein will. Es geht ja nur noch darum, irgendwie ins Fernsehen zu kommen oder irgendwie im Rampenlicht oder im Scheinwerferlicht zu stehen. Hauptsache, die anderen sehen mich und jubeln - dann bin ich lebendig. Star sein auf Populärniveau ist jetzt die Tendenz, die hoffentlich nicht lange anhält. Das kann ich mir auch nicht vorstellen - wenn jemand von der Straße kommt und sich nicht weiterentwickelt. Es gibt Leute, die werden entdeckt und entwickeln sich dann weiter. Das ist okay. Aber die Leute, die das nicht tun, die werden diesen Weg nicht weitergehen können. Das war dann eben nur eine Sternschnuppen, die verbrennt.
Movie-College: Der Film "Die Spielwütigen" hat auch so etwas thematisiert. Das Auswahlkriterium lag dabei, dass die Studenten diese Leidenschaft, diese Unbedingtheit mitbringen mussten. Man wird nicht von heute auf morgen Star, man muss sich das über Jahre erarbeiten. Diesen Traum zu leben, Schauspieler zu werden. Ist es für einen jungen Menschen, der zum Theater oder zum Film will der einzige Weg über die Ausbildung zu gehen, oder kann man heute auch sagen: ‚Geh in eine Agentur, sprich da vor und versuche den Weg außerhalb der Schule'. Oder eher: Leidenschaft, aber bitte mit Schauspielschule?
Nicole Ansari: Da teilen sich auch die Wege. Ich bin auch jemand, der die Schauspielschule nicht von A bis Z durchgemacht hat. Ich hab immer wieder eine Ausbildung gemacht, aber nicht in dem Sinne, dass ich auf die Ernst-Busch und da vier Jahre geblieben bin und dann hatte ich die Ausbildung. Ich fing an in Hamburg auf eine Privatschule, wo ich rausgeschmissen wurde oder wo ich mich rausschmeißen lassen habe, weil ich da nicht weiter sein wollte. Ich habe damals von Reiner Müller "Quartett" gespielt, auf eine sehr moderne Art und Weise - "Sex, Drugs and Rock'n Roll" - wir haben damit sehr provoziert. Ich habe Regie geführt und auch gespielt. Das war zu schockierend für die Lehrer, weil es eine Musicalschule war und wir da nur "Singing in the rain" und Tapp-Dance gemacht haben und ich kam dann mit dieser Aufführung. Ich glaub da war ihre Leidenschaft für mich erloschen. Jetzt lach ich mich darüber tot, aber damals war ich 18. Ich wurde zum Direktor gerufen und dieser hat gemeint, dass es wohl nicht die richtige Schule für mich ist. Da hab ich gesagt: ‚Das stimmt!' - ‚Dann gehst du doch lieber!' - ‚Ja, dann geh ich lieber.'
Danach bin ich im Grunde von der Straße entdeckt worden und fing im Theater an, unter anderem in Zürich, wo ich zwei Jahre gespielt habe. Ich habe also eine halbe Schauspielausbildung hinter mir, aber keine volle. Ich merkte, dass ich noch an mir arbeiten muss. Ich langweilte mich immer wieder das Gleiche zu spielen. Eigentlich macht das ein Schauspieler von allein und muss es auch machen: jeden Tag etwas Neues lernen. Auch bei der gleichen Rolle muss und kann man tagtäglich immer wieder etwas Neues entdecken. Immer wieder das gleiche Stück zu spielen, ist die Kunst. Es einmal toll hinzubekommen, eine tolle Improvisation kann auch ein Laie. Kunst ist das immer wieder herstellen zu können bei jedem Take, bei jeder Aufführung immer wieder auf dem Punkt zu sein. Das konnte ich nicht. Deswegen bin ich nach Amerika und habe da zwei Jahre studiert und mir geholt, was mir fehlte.
Aber wie gesagt, ich bin eine von denjenigen, die auf halben Weg entdeckt wurden. Ein gewisses Talent und die Spielwut waren auf jedem Fall da. Ich war wie ein Rohdiamant, völlig ungeschliffen und deswegen habe ich mich gelangweilt. Nach ein paar Vorstellungen dachte ich mir: ‚Man, die wollen das ihr Leben lang machen, immer wieder das Gleiche, das ist ja voll langweilig.' Jetzt ist es tatsächlich so, dass ich nach der 30. Vorstellung noch etwas Neues entdecke und etwas perfektionieren will. Das ist der Unterschied. Die Tochter einer Freundin von mir hat in England eine Soap gemacht und man hat sie wirklich gepusht. Dann wollte sie weitermachen, aber man hat ihr gesagt, dass sie lieber erst einmal auf eine Schule solle. Sie könne nebenher weiterarbeiten, solle sich aber ein Fundament aufbauen. Wenn sie fällt, hat sie dann ein Netz, das sie auffängt. Wenn man als Laie fällt, gibt es kein Netz. Man hat dann nur seine Naivität, seine Offenheit, ein bisschen Talent und seine Leidenschaft mitgebracht, aber kein Werkzeug. Das reicht dann doch nicht für eine ganze Karriere.
Man muss als Schauspieler, wenn man den Beruf wirklich liebt, auch auf lange Sicht denken. Es geht nicht darum jetzt sofort ein Star zu sein, obwohl sich das jeder wünscht, auch wenn er so tut, als sei das nicht war. Um noch einmal darauf zurück zu kommen: eine Schauspielerin aus New York mit der ich zusammen gearbeitet habe, hat immer gesagt: Wenn du etwas anderes machen kannst, dann mach es. Weil sie meint, dass es eigentlich eine Qual ist Schauspieler zu sein. Als Frau ist es noch viel schlimmer, weil es immer mit Aussehen zu tun hat. Bei Männern ist das nicht so schlimm, da es viel mehr Rollen für Männer gibt, und es erlaubt ist hässlich zu sein und müde. Man geht jeden Tag raus mit dem Wunsch ‚Jetzt klappt es aber, jetzt geh ich auf das Casting und treffe Woody Allen und das wird ganz toll.' Und dann wird man an der Tür schon abgelehnt. Sie haben schon jemanden gefunden, oder man ist gar nicht blond, oder so klein… Wenn du schreibst, was ich jetzt angefangen habe, produzierst du etwas. Das können sich die Leute anschauen, aber es ist nicht immer dein Körper. Denn wenn du als Schauspieler abgelehnt wirst, dann bist es du. Klar hat es mit der Rolle zu tun und so weiter, aber trotzdem ist es dein Körper, deine Stimme oder dein Augenaufschlag. Vor ein paar Monaten habe ich ein Kurzfilm gedreht, den ich geschrieben und wo ich auch Regie geführt habe. Dabei habe ich etwas über die Schauspielerei kapiert. Als Schauspieler hat man meistens das Gefühl, man könne alles spielen. Aber als ich jetzt selbst gecastet habe, merkte ich, dass das gar nicht stimmt. Es stimmt oder es stimmt nicht für die Kamera, und das hat nicht immer unbedingt etwas mit dem Talent zu tun. Es gibt vielleicht jemanden, der hat etwas weniger Talent, stimmt aber eher für die Rolle.
Es ist beim Film schwer zu sagen, wenn jemand von der Straße weggecasted wird, ist das ungerecht. Nicht unbedingt, weil es da vielleicht gerade gestimmt hat. Und Fünfzehnjährige oder jünger, die auf der Schauspielschule waren und voll ausgebildet sind, findet man nicht. Und dann gibt es auch Leute, die behaupten, dass die Schauspielschulen das Talent nur versauen. Es gibt Regisseure, die wollen nicht mit ausgebildeten Schauspielern arbeiten, weil sie verschult worden sind. Ich weiß, was sie damit meinen, weil man jungen Leuten oft ansehen kann, auf welcher Schule sie waren. Und das kann ja auch nicht eine Ausbildung sein - das ist Ernst-Busch, das ist Max-Reinhardt… Das sollte man ja nicht sehen.
Movie-College: Du kennst ja beide Seiten. Du hast beim Theater angefangen, machst aber auch Filme und Fernsehen. Was sind die größten Unterschiede für einen Schauspieler bei der Darstellung? Und ist es für das Theater nicht noch viel dringender, dass man eine Ausbildung als Grundhandwerk braucht, in Bezug auf Stimmbildung, Präsenz und Haltung…
Nicole Ansari: Absolut. Wenn jemand zum Theater will, sollte er unbedingt eine Ausbildung machen. Du weißt sonst gar nicht, wie gehst du über die Bühne, wie öffnest du dich zu den Schauspielern, wie bediene ich 350 Leute in einem Saal, wie bediene ich 3000? Wie muss ich meine Stimme einsetzen, so dass sie drei Stunden hält? Diese Sachen muss man einfach lernen. Man muss auch eine gewissen Bildung haben, die Klassiker kennen… Früher war es ja vor allem in England noch so, dass die älteren Schauspieler die jüngeren an die Hand genommen und denen das Handwerk gezeigt haben. Leider ist das verloren gegangen. Ich weiß auch gar nicht warum. Und jetzt ist es so, dass sich jeder selbst ein bisschen durchwurschtelt, vielleicht auch durch den Film, weil sich die Leute nicht mehr nur auf das Theater konzentrieren. Früher hat ein Schauspieler erst kleine Rollen gespielt, irgendwann dann die Rolle des Romeo, dann Hamlet… und ist stufenweise aufgestiegen. Heute hat das gar keine Richtung mehr.
Beim Film braucht man vielleicht nicht unbedingt eine Ausbildung. Es muss das Talent da sein. Der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami arbeitet sehr viel mit Laien und macht großartige Filme. Es gibt aber Rollen, die er nie mit Laien besetzen würde, die können nur Schauspieler. Wenn es um eine gewisse Differenzierung oder Vielschichtigkeit geht, kann das ein Laie nicht bedienen. Dann gibt es aber wieder Dinge, die ein Laie besser kann, als ein Schauspieler.
Movie-College: Es stehen ja vor allem auch immer junge Schauspieler vor einem Konflikt. Sie wollen Kunst machen und suchen nicht unbedingt den schnellen Erfolg. Dann kommen aber Angebote von Daily Soaps. Soll man die annehmen und damit in eine gewisse Schiene hineingeraten, oder ablehnen. Wenn man zuviele Angebote ablehnt, ist man ja auch gleich wieder weg. Kannst du da einen Tipp geben, welchen Weg man gehen soll?
Nicole Ansari: Mir ist das so passiert, dass ich am Anfang in die Sexy-Ecke hineingerutscht bin. Habe dann aber gesagt ‚Das will ich nicht' und mich drei Tage vor Drehbeginn verabschiedet. Der Regisseur hatte mir etwas versprochen, was er nicht halten konnte. Man wollte dann doch wieder Arsch und Busen sehen, obwohl es wochenlang besprochen wurde, wie wir das machen wollen. Ich wollte das nicht machen und hab gesagt, dass sie sich jemanden anderes suchen müssen und das haben sie dann tatsächlich gemacht. Ich bereue nicht, dass ich da Nein gesagt habe. Es war schmerzhaft, weil es eine große Rolle war und ich danach sicher mehr in Deutschland hätte machen können, aber was hätte ich machen sollen? Es ist tatsächlich so, dass, wenn man zu viele Sachen absagt, wie ich das gemacht habe, dann erst einmal allein dasteht.
Das ist auch einem Regisseur passiert, den ich kenne. Er hat nur erstklassiges Fernsehen machen wollen, hat ganz viele Sachen abgelehnt und dann kam die Krise und mit ihr nichts mehr. Das gibt es bei Regisseuren wie bei Schauspielern. Dann kommen Gerüchte: Die ist schwierig, die wollte sich nicht ausziehen. Es hat nichts mit Nacktheit zu tun, denn das ist eine Sache, die kann ab und zu richtig stimmen. In Fatih Akins Film zum Beispiel war viel nackte Haut zu sehen, aber das hat gar nicht gestört, weil es richtig war. Es gab einen künstlerischen Grund, es hatte gestimmt.
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Das Interview wurde geführt von Bogdan Büchner