Allen handwerklichen Konventionen trotzen und die Kamera einfach verkanten? Wer macht so etwas und wofür taugt es erzählsprachlich überhaupt? Nun, es gehört zu den Anfängerlektionen im Umgang mit Kameras und Stativschwenkköpfen, dass man lernt, den Schwenkkopf immer in "Wasser zu stellen", also dafür zu sorgen, dass die Libelle in der Wasserwaage, die jeder ordentliche Schwenkkopf besitzt, genau in der mittleren Einzeichnung, dem aufgedruckten Kreis ist. Dann nämlich ist der Horizont im Bild genau waagerecht.
Der Mensch sehnt sich nach klaren Regeln und zu diesen Regeln gehört, dass der Horizont, dort wo nicht gerade Berge oder Hügel in der Ferne sind, waagerecht ist. Schwerkraft bleibt Schwerkraft. Felder, Wälder, Meer etc. überall zeigt sich eine waagerechte Horizontlinie. Gleiches gilt für Senkrechten. Wände, Säulen, Häuser bilden Senkrechten, es sei denn, sie sind zerstört oder desolat. Und doch gibt es Einstellungen, Szenen, ja manchmal ganze Filme, die diese goldene Regel vom waagerechten Horizont und den senkrechten Wänden und Säulen bewusst brechen.
Graduelle Unterschiede
Wir wollen uns genauer anschauen, was es mit diesen Brüchen auf sich hat. Die Amerikaner sprechen in diesen Fällen von "Dutch Angle", "Chinese Angle", "Canted Camera" oder auch "Tilted Shot". Wegen der US Fernsehserie "Batman" in den 60er Jahren, welche diese Kameraführung häufig nutzte, wird auch der Begriff Batman-Angle verwendet.
Diese Verkantung der Kamera gegenüber dem natürlichen Horizont bedeutet eine Drehung der Kamera in ihrer eigenen Achse und kann sowohl starr, als auch bewegt sein.
Wenn sie starr ist, dann ist die Kamera einfach verkantet, der Horizont und die Senkrechten sind schräg gestellt. Wird Jemand an einem fremden Ort, oder angetrunken oder in misslicher Lage etwa nach einem Sturz oder gar Unfall wach und öffnet die Augen, so kann das subjektive Bild, welches diese Person sieht, durch die Verkantung den Zustand unterstreichen. Die Verkantung signalisiert, dass etwas außer Kontrolle geraten ist, dass der Blick irritiert, durcheinander ist. Schwindel, Schwanken oder gar ein Sturz lassen sich so visuell simulieren.
Wenn sie bewegt ist, kann damit ein wankender Horizont, wie auf einem Schiff oder bei einem Betrunkenen, ein Kontrollverlust des eigenen Gesichtsfeldes angedeutet werden. Auch Wahnsinn oder Vergiftungen werden gerne auf diese Weise in Bilder übersetzt. Wird daraus ein rollender Horizont, etwa bei einer Drehung der Kamera um die eigene Achse (Science Fiction, Schwerelosigkeit etc.) scheint eher etwas Technisches dahinter zu stecken. Das kann die Auflösung der Schwerkraft sein, in der Achterbahn oder auf der Raumstation. ("2001 Space Odyssy", "Silent Running" usw.)
Der Grad der Verkantung kann sehr unterschiedlich ausfallen. Bis etwa 45 oder 60 Grad kann man noch von einer Verkantung sprechen, bei 90 Grad ist es eher eine Seitenposition und bei 180 Grad ist es eine Überkopflage, die Kamera steht förmlich Kopf.
Normal und Abweichung
So wie Wasser stets eine waagerechte Lage einnimmt, wenn es in Gefäßen oder Räumen ist, wird der waagerechte Horizont als Normal angenommen. Filmische Handlung in einer normalen Welt mit normalen Situationen, erhält mehrheitlich waagerechte Horizontlinien. Natürlich kommt es wie immer auf den Kontext an. Aber mehrheitlich kann man zur verkanteten Kamera sagen, dass es die Ausnahmesituationen sind, die Konflikte, die Momente in denen alle Regeln menschlichen Lebens förmlich "aus den Angeln" gehoben werden, welche durch eine verkantete Kamera visuell und emotional untermauert werden. So gesehen ist die verkantete Kamera ein Mittel der Dramatisierung.
Ein besonderer Effekt ist die Veränderung des Winkels während der Aufnahme, bei dieser wird der Zuschauer Zeuge des Kontrollverlusts bzw. der sich ändernden Weltsicht.
Ein früher Dokumentarfilm, "Der Mann mit der Kamera" (Regie: Dsiga Vertov 1929), arbeitet mehrfach mit der verkanteten Perspektive. Im Film Noir werden immer wieder Extremsituationen durch die schräg gestellte Kamera dargestellt.Auch in "Im Zeichen des Bösen" arbeitet Regisseur Orson Welles mit der verdehten Sicht auf die Welt.
Einer der bekanntesten Kinospielfilme der Filmgeschichte, in welchem die Normalität durch die Verkantete Kamera visuell in Frage gestellt wird ist sicherlich "Der Dritte Mann" von Carol Reed (1949) mit Orson Welles, dessen Geschichte im Wien der Nachkriegszeit angesiedelt ist. Verkantete Schuss-Gegenschuss Aufnahmen sind hier sogar in gegensätzliche Richtungen geneigt. Viele weitere Kinofilme arbeiten in entscheidenden Momenten mit der schräggestellten Kamera. ("Fatal Attraction", "Nightmare on Elm Street", "Rules of Attraction" usw.)
Technische Lösungen
Für derartige Zwecke wurden sogar Schwenkköpfe so miteinander kombiniert, dass neben Horizontal und Vertikal auch die Schräge geschwenkt werden konnte. Derartige Doppelköpfe nennt man Dutch-Heads, angeblich wegen eines Irrtums der Amerikaner, welche die verkantete Kamera vor allem dem Film des deutschen Expressionismus zuordneten und für die Deutsch und Dutch sehr ähnlich klangen. So prägten sich per Übersetzungsfehler diese Begriffe, Dutch Angle, Dutch Tilt und Dutch Head fälschlicherweise ein.
Moderne Remote-Köpfe erlauben es ebenfalls manchmal, die Kamera rotieren zu lassen. Sie kann dadurch mit hoher Präzision verkantet werden, aber auch um die eigene Achse Rollen oder hin,- und her Schwanken.