Rotten Apples
Die berechtigten Wellen der Empörung, losgetreten durch die Aufdeckungen rund um Harvey Weinstein, aber auch Enthüllungen etwa in anderen Filmländern, wie Schweden, führten Ende 2017 zu einer Datenbank in der User nachschauen können, ob ein bestimmter Film unter der Beteiligung von Personen entstand, die sich durch sexuelle Übergriffe oder gar Vergewaltigungen schuldig gemacht haben. Regisseure, Drehbuchautoren, Teammitglieder, Schauspieler oder Produzenten, die derartiger Vergehen beschuldigt sind, finden sich in dieser Datenbank wieder und führen zu einer Negativliste an Filmen und Serien.
"Rotten Apples", verfaulte Äpfel heißt die neue Datenbank welche Filme und Serien identifiziert, an denen Sex-Täter beteiligt waren. Der Name bedient sich natürlich beim Filmkritik-Vorbild Rotten Tomatoes und erlaubt es, Filmtitel einzugeben und angezeigt zu bekommen, ob der Film durch die jüngsten Aufdeckungen politisch inkorrekt geworden ist. Die Gründerinnen der Datenbank sprechen zwar davon, nur zum Nachdenken über Ethik und Medienkonsum anstoßen zu wollen und nicht zur Verbannung von Filmen, doch Letzteres wird vermutlich eher der Effekt der Datenbank sein.
Filmtitel, bei denen die Verfehlungen Beteiligter bekannt sind, werden unter "Rotten Apples", Filme ohne Aufdeckungen werden mit "Fresh Apples" gekennzeichnet. Link: https://therottenappl.es/
Künstlerische Leistung vs. Mensch
Dabei wirft diese Datenbank natürlich weitaus größere Fragen auf. Nämlich etwa die Frage, ob künstlerisches Werk und Personen immer in einem Zusammenhang betrachtet werden müssen oder ob große künstlerische Leistungen auch isoliert vom Charakter der Menschen gesehen werden dürfen.
Diese Frage wird nicht erst heutzutage diskutiert. In der Vergangenheit gab es eine Vielzahl von Künstlern, deren Werke künstlerisch überzeugten, deren Haltungen oder Taten als Privatmenschen, soweit berühmte Personen überhaupt noch als Privatpersonen agieren können, verurteilt werden müssen.
Deutsche Schauspieler wie Gustav Gründgens oder Heinrich George waren eindeutiger, andere die eine größere Liste füllen würden, weniger eindeutig mit dem NS Regime verbandelt. Einige haben sogar Unterhaltungsauftritte in KZs für die Aufseher und Mordgehilfen aufgeführt. Einige der mit Freigabe oder Auftrag des Propagandaministeriums entstandenen Filme sind auch heute noch regelmäßig in Fernsehkanälen zu sehen. Regisseur Veith Harlan, der mit seinem Film "Jud Süß" theoretisch zum Massenmord animierte, war der einzige Filmkünstler, der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde.
Ähnliche Fragestellungen gelten für die Musikszene, wo Sänger-innen, Dirigenten etc. politisch oder moralisch höchst umstritten, künstlerisch aber anerkannt waren.
Von Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder Roman Polański, von Schauspielern wie Marlon Brando, Dustin Hoffman, Casey Affleck oder Kevin Spacey sind sexuelle Verfehlungen bekannt, ihre Filme sind fester Bestandteil der Filmgeschichte. Müssen diese nun aus dieser gelöscht, ihre Namen in Büchern geschwärzt werden? Dürfen wir die "Reifeprüfung", ein Meisterwerk von Mike Nichols wegen der sexuellen Übergriffe, die Hauptdarsteller Dustin Hoffman viele Jahre später begangen haben soll, nicht mehr anschauen? Die Cinematheque Francaise etwa hat trotz zahlreicher Proteste, eine Retrospektive mit Polanski Filmen gezeigt.
Können Menschen in ihrer beruflichen / künstlerischen Tätigkeit für moralische Werte, für Humanität einstehen und sie als Privatperson aber brechen? Ja sie können es, das ist seit langem bekannt. Werden die, jenen hohen moralischen Werten verpflichteten Filme damit wertlos? Darüber muss zwingend diskutiert werden. Ist ein filmisches Kunstwerk, wie Polanskis "Der Pianist", welcher die Schrecken des NS Regimes künstlerisch auf höchstem Niveau verhandelt, dazu verdammt, nicht mehr gesehen zu werden, weil sein Regisseur vor Jahrzehnten ein verurteilenswürdiges Verhalten an den Tag gelegt hat?
Einzeltäter vs. Teamleistung
Eine weitere Frage betrifft den Film als Gesamtwerk. An einem solchen Film haben unzählige Menschen mitgearbeitet, manchmal sogar jene, die gerade die Opfer sexueller Übergriffe geworden sind. Werden derartige Filme, die in der Vergangenheit, lange vor dem Bekanntwerden der Übergriffe enstanden sind, nun boykottiert, so werden vermutlich 95% der beteiligten Schauspieler-innen und Teammitglieder unschuldig mitbestraft für die Vergehen Einzelner.
Sind die Leistungen all der anderen Menschen, die gemeinsam in oft jahrelanger Arbeit an einem Filmwerk gearbeitet haben, wirklich wertlos, ja verabscheungswürdig geworden, weil eine Person, die sexuelles Fehlverhalten oder schuldhafte Übergriffe zu verantworten hat, mitgewirkt hat?
Der Filmmarkt ist auf öffentliche Zustimmung angewiesen, Produzenten fürchten sich vor hohen Investitionen, die möglicherweise an der Kinokasse nicht zurückfließen, weil ein Film öffentlich boykottiert wird. Rechteinhaber, welche davon leben, Filmwerke und Serien international zu verkaufen, könnten über Nacht bedeutende Wertverluste erleiden, falls irgendwem aus dem Stab oder Cast des Produktes Übergriffe vorgeworfen oder gar nachgewiesen werden.
Wird ein Filmwerk schlechter, weil ein Mensch, der sich schlecht verhalten hat, mitwirkte?
Wie damit umgehen?
Bei aller Doppelmoral, mit der Amerika die aktuelle Diskussion um Sexuelle Übergriffe führt, wenn man nach den Enthüllungen die Täter damit bestraft, dass man sie vorerst oder für alle Zeiten nicht mehr in Filmen beschäftigt, ist das irgendwie nachvollziehbar, sollte aber im Einzefall geprüft werden. So geschehen etwa bei House of Cards und der Beendigung der Zusammenarbeit mit Kevin Spacey und Netflix.
Sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigungen sind zu ahnden, darüber gibt es gar keine Diskussion. Ob aber Fehlverhalten, für das normale Bürger nicht rechtlich belangt werden, bei Stars oder anderen Filmschaffenden automatisch zu existenziell bedrohlichen Situation führen darf, sollte diskutiert werden.
Dass in jedem Menschen die Möglichkeit Gutes wie Schlechtes zu tun, angelegt ist, hat die Menschheitsgeschichte nachhaltig bewiesen. Damit wird auch der digitalisierte Mensch umgehen müssen. Künstlerisch hochstehende Leistungen können moralische Verfehlungen niemals entschuldigen oder gar entlastend abmildern. Nein, niemals, doch die Arbeit so vieler, an einem Filmwerk Beteiligter für die Schuld eines Einzelnen abzustrafen, ist ebensowenig in Ordnung.