Aus der Corona-Situation geboren, wird es für das DOK.Fest auch 2023 wieder eine Hybrid-Ausgabe geben. Die ersten Tage ausschließlich mit physischen Kinoaufführungen und echten Begegnungen, ganz so, wie wir es eigentlich gewohnt waren und ab dem 8. Mai dann auch online.
Das Programmangebot ist mit mit 130 Filmen aus 55 Ländern wieder sehr breit gefächert und viele spannende Filme warten darauf, vom 3. bis 14. Mai in den Kinos und parallel vom 8. bis 21. Mai auch Online entdeckt zu werden. Wie man all das am Besten findet, zeigen wir Euch an dieser Stelle. Online muss man etwas stärkere Nerven mitbringen, vor jedem Film laufen Werbung und Sponsorennnennungen, die sich natürlich nicht überspringen lassen. Da ist YouTube gnädiger...
Der Film ETILAAT ROZ von Abbas Rezaie, (Afghanistan 2023, 93 Min) eröffnete am 3. Mai das DOK.fest.
Es lohnt sich auf jeden Fall! Über diese Buttons könnt Ihr die verschiedenen DOK-Themenbereiche öffnen und schließen:
Das Programm
130 Filmen aus 55 Ländern mit einer Auswahl der besten gesellschaftlich-relevanten und künstlerisch herausragenden Dokumentarfilme des Jahres. Ab sofort kann man Online-Tickets erwerben. Für das Anschauen der Filme werden etwas höhere Preise aufgerufen, als im vergangenen Jahr.
Ein einfaches Ticket für einen Film kostet 10,00 €
Wer die Filme ab dem 8. Mai lieber von zuhause anschauen möchte, zahlt 5,00 € pro Film.
Man kann aber auch eine Flatrate für alle Filme erwerben, den Festival-Pass für 75,00 €. Das Online Pendant dazu kostet 50,00€.
Einen Überblick über die Filme des Festivals gibt es hier: https://www.dokfest-muenchen.de/Filme
DOK.international Main Competition
(Auswahl)
ADIEU SAUVAGE (Belgien 2023, Sergio Guataquira Sarmiento). Von Belgien in den kolumbianischen Urwald. Eine poetische Geschichte über die Komplexität von „Herkunft“.
BE WATER – VOICES FROM HONG KONG (Deutschland 2023, Lia Erbal). Regenschirm-Proteste in Hongkong: Stimmen zwischen Hoffnung auf Wandel und brutaler Repression.
DEMON MINERAL (USA 2023, Hadley Austin). Ein kluges Manifest zum „Nuclear Colonialism” auf dem Territorium der indigenen Navajo im Südwesten der USA.
HYPERMOON (Schweden 2023, Mia Engberg). Zwischen Krankenhaus und Weltall: ein intimes Filmessay über die Zerbrechlichkeit des Seins.
DOK.deutsch Wettbewerb
(Auswahl)
AUF DER KIPPE (Deutschland 2023, Britt Beyer). Die Lausitz, ehemaliges Zentrum des Braunkohlebergbaus der DDR, hastet von Wandel zu Wandel.
EINZELTÄTER TEIL 1: MÜNCHEN (Deutschland 2023, Julian Vogel). Der rassistische Anschlag 2016 am Münchner OEZ verändert das Leben der Hinterbliebenen für immer.
FACING TIME (Deutschland 2023, Annett Ilijew). Chronist des Augenblicks im Auge der Kamera: Michael Ruetz und seine ikonische Fotografie.
RUÄCH – EINE REISE INS JENISCHE EUROPA (Schweiz 2023, Andreas Müller, Simon Guy Fässler). Die innere Freiheit eint sie, aber auch die tiefen Verletzungen der Vergangenheit: Die Jenischen.
DOK.horizonte - Cinema of Urgency
(Auswahl)
ETILAAT ROZ (Afghanistan 2022, Abbas Rezaie). Der Fall Kabuls im August 2021 – ein dramatisches Kammerspiel in den Redaktionsräumen der Zeitung Etilaat Roz.
AGAINST THE TIDE (Frankreich, Indien 2023, Sarvnik Kaur). Freundschaft zwischen Tradition und Globalisierung: Die Geschichte der indischen Koli-Fischer Ganesh und Rakesh.
ALONE (Iran 2022, Jafar Najafi). Der einsame Kampf Amirs, seine Schwestern vor den Fesseln des Patriarchats zu bewahren.
BAGHDAD ON FIRE (Irak, Norwegen 2023, Karrar Al-Azzawi). „Nobody is the leader in this youth revolution!“ – Tiba kämpft für einen freien Irak.
Student Award
ALL ROADS LEAD TO MORE (Deutschland 2022, Afraa Batous). Vier junge Syrerinnen unterwegs in Europa. Eine Fluchtgeschichte? Nein, ein Road-Trip!
AMA OSA (Italien 2022, Marija Stefānija Linuža). Nao ist ein Webcam-Girl. Nao ist Künstlerin. Wer definiert wen? Und wie? Ein Kurzfilm.
BORDER CONVERSATIONS (Deutschland 2022, Jonathan Brunner). Wie kämpft man gegen das Nichts? Ein Film aus dem Niemandsland an der EU Ost-Grenze.
CHAGRIN VALLEY (Schweiz 2023, Nathalie Berger). Für die Bewohner*innen eine pittoreske Insel des Vergessens – für das Pflegepersonal harte Arbeit.
DOK.guest Türkei
EREN (Deutschland 2023, Maria Binder). Eren Keskin – Eine Anwältin im Kampf für die Rechte von Frauen* und Minderheiten in der Türkei.
SEYRAN ATEŞ: SEX, REVOLUTION AND ISLAM (Norwegen 2021, Nefise Özkal Lorentzen). „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution!“ – Der kontroverse Kampf einer Berliner Imamin.
THE DECREE – AUSNAHMEZUSTAND (Türkei 2023, Nejla Demirci). Per Dekret zum Schweigen gebracht: Der mühsame Kampf gegen willkürliche Entlassungen in der Türkei.
TRANSLATING ULYSSES (Netherlands, Turkey 2023, Firat Yucel, Aylin Kuryel). Ulysses auf Kurdisch – ein Schriftsteller will mit Weltliteratur die kurdische Sprache retten.
DOK.focus POWER OF MEDIA?
5 SEASONS OF REVOLUTION (Arabische Republik Syrien, Deutschland, Niederlande, Norwegen, Qatar 2023, Lina N.N.). Lina filmt 10 Jahre im syrischen Bürgerkrieg – Journalismus als Mittel des gewaltlosen Widerstands.
AND THE KING SAID, WHAT A FANTASTIC MACHINE (Schweden 2022, Axel Danielson, Maximilien van Aertryck). Eine bildgewaltige Reise durch die Geschichte der visuellen Medien – von der ersten Fotografie bis heute.
GOLDHAMMER (Deutschland 2023, André Krummel). Sex, Drugs oder doch lieber: Politics? Marcel Goldhammer fragt: warum nicht alle drei?
IRON BUTTERFLIES (Deutschland, Ukraine 2023, Roman Liubyi). Im Jahr 2014 wird über der Ukraine der Flug MH17 abgeschossen. Eine weitreichende russische Desinformationskampagne nimmt ihren Anfang.
MANIFESTO (Russland 2022, Angie Vinchito). Die russische Gegenwart durch das Brennglas der sozialen Medien: ein filmisches Mosaik aus TikTok-, YouTube- oder Periscope-Clips.
Hommage Nikolaus Geyrhalter
(Auswahl)
ABENDLAND (Österreich 2011, Nikolaus Geyrhalter). Europa bei Nacht: Eine assoziative Reise, die das Politische unwillkürlich offenbart.
DIE BAULICHE MASSNAHME (Österreich 2018, Nikolaus Geyrhalter). Ein Grenzzaun um die Grenze – eine „bauliche Maßnahme“ stürzt den Brenner in die Krise.
HOMO SAPIENS (Deutschland, Österreich 2016, Nikolaus Geyrhalter). Die Welt ohne Menschen – eine Reise zu verlassenen Orten.
MATTER OUT OF PLACE (Österreich 2022, Nikolaus Geyrhalter). Bildgewaltiger Blick auf das globale Müllproblem – so poetisch wie ernüchternd
Retrospektive DOK.network Africa
(Auswahl)
AFRICA, I WILL FLEECE YOU (Kamerun 1992, Jean-Marie Teno). Mit bissigem Humor liefert Teno eine kunstvolle Analyse des heutigen Kameruns und seines kolonialen Erbes.
CAMÉRA D'AFRIQUE – AFRICAN CINEMA: FILMING AGAINST ALL ODDS (Frankreich, Tunesien 1983, Férid Boughedir). Eine Begegnung mit den Pionieren des Afrikanischen Kinos wie Sembène Ousmane oder Med Hondo.
ESPOIR VOYAGE (Burkina Faso, Frankreich 2011, Michel K. Zongo). Ein Roadtrip in Westafrika: Filmemacher Zongo begibt sich auf die Suche nach seinem Bruder.
LETTER FROM MY VILLAGE (Senegal 1975, Safi Faye). Ein Dorf im Senegal 1975: ein Film über Landwirtschaft und Landflucht – und schon damals den Klimawandel.
Interviews
Wie gewohnt wird es Gespräche nach den Filmen im Kino und zu vielen Filmen Gespräche Online geben. Dabei sind teilweise auch mehrere der am jeweiligen Film beteiligten Filmschaffenden zugeschaltet.
Um auch das Gespräch rund um die Filme aufrecht zu erhalten, wird es zu fast allen Filmen aus dem Programm Gespräche mit den FilmemacherInnen aus dem Programm geben.
Preise
Die Organisatoren des DOK.Festes haben es geschafft, für die Online-Ausgabe die Vergabe der meisten ausgelobten Preise aufrecht zu erhalten. Das ist nicht selbstverständlich und für die FilmemacherInnen eine wertvolle Hilfe.
Im Internationalen Wettbewerb laufen folgende Filme:
ADIEU SAUVAGE, Belgien 2023 – Regie: Sergio Guataquira Sarmiento
BE WATER – VOICES FROM HONG KONG, Deutschland 2023 – Regie: Lia Erbal
DEMON MINERAL, USA 2023 – Regie: Hadley Austin
HYPERMOON, Schweden 2023 – Regie: Mia Engberg
JACKIE THE WOLF, Deutschland, Frankreich 2023 – Regie: Tuki Jencquel
MAGIC MOUNTAIN, Georgien, Polen 2023 – Regie: Mariam Chachia, Nik Voigt
LA EMPRESA, Deutschland 2023 – Regie: André Siegers
NON-ALIGNED: SCENES FROM THE LABUDOVIĆ REELS, Frankreich, Kroatien, Montenegro, Qatar, Serbien 2022 – Regie: Mila Turajlić
PARADISE, Frankreich, Schweiz 2022 – Regie: Alexander ABATUROV
THE GOLDEN THREAD, Bosnia and Herzegovina, Großbritannien, Indien, Niederlande, Norwegen 2022 – Regie: Nishtha Jain
THEATRE OF VIOLENCE, Dänemark 2023 – Regie: Lukasz Konopa, Emil Langballe
ZONA NORTE, Mexiko 2022 – Regie: Javier Ávila
Die Preise
In den drei Wettbewerbsreihen konkurrieren Filme um den VIKTOR Main Competition, DOK.international (gestiftet vom Bayerischen Rundfunk), den VIKTOR DOK.deutsch und den VIKTOR DOK.horizonte (gestiftet von der Petra-Kelly-Stiftung).
Das DOK.forum, die Branchenplattform des DOK.fest München, hat bei der Preisverleihung am Sonntagabend vier Dokumentarfilmprojekte in Entwicklung mit Förderpreisen und einem Preisgeld in Gesamthöhe von 10.000 Euro ausgezeichnet.
Der DOK.edit Award – presented by Adobe zeichnet außerordentliche Arbeit von Editor*innen aus.
Die Preisträger*Innen
DOK.forum:
DOK.archive Award: BERLIN CHIC von Sigal Rosh
DOK.composition Award: HARVEST MOON von Rama Ayasra, Komponistin: Zeina Azouqah
DOK.digital Award – Preis für neue Erzählformate: TRUTH DETECTIVES Serious Game von Anja Reiss und Raphael Perret
DOK.talent Award: A SMALL MOMENT von Daniela Magnani Hüller
Dok.edit Award: NON-ALIGNED von Mila Turajlić
Gewinner VIKTOR DOK.international Main Competition: THEATRE OF VIOLENCE, Regie: Lukasz Konopa, Emil Langballe.
Gewinner VIKTOR DOK.deutsch Wettbewerb: GRETAS GEBURT, Regie: Katja Baumgarten
Eine lobende Erwähnung erhielt RUÄCH – EINE REISE INS JENISCHE EUROPA von Andreas Müller und Simon Guy Fässler.
Gewinner VIKTOR DOK.horizonte Competition – Cinema of Urgency: LE SPECTRE DE BOKO HARAM, Regie: Cyrielle Raingou
Gewinner FFF-Förderpreis Dokumentarfilm: SHE CHEF, Regie: Melanie Liebheit, Gereon Wetzel
Gewinner megaherz Student Award: BORDER CONVERSATIONS, Regie: Jonathan Brunner
Gewinner DOK.edit Award – presented by Adobe: NON-ALIGNED: SCENES FROM THE LABUDOVIĆ REELS, Regie: Mila Turajlić
Dokumentarfilm Lernen
Auch in diesem Jahr wird es unter dem Label "DOK.education" ein pädagogisches Angebot geben, welches aus verschiedenen Formaten, besteht.
Das Angebot will helfen, Medienkompetenz im Dokumentarischen zu schulen, ein Verständnis für die Erzählsprache von Dokumentarfilmen zu entwickeln. Filmbildung im Kino und online:
Kino: Schule des Sehens 2023
Im 90-minütigen Workshop im Kino sehen Ihre Schüler*innen einen altersgerechten kurzen Dokumentarfilm auf großer Leinwand. Sie erarbeiten in Gruppen Sehaufgaben zu Thema und Machart des Films. Kinder und Jugendliche lernen dabei, Filme differenziert wahrzunehmen und werden spielerisch zur kritischen und selbstbewussten Mediennutzung motiviert.
Wir zeigen schulartübergreifend Dokumentarfilme, die auf Augenhöhe und mit künstlerischem Anspruch aus der Lebenswelt junger Menschen erzählen. Die Workshops werden von medienpädagogisch geschulten Filmexpert*innen geleitet und in den meisten Fällen von einem*r Filmemacher*in begleitet.
Die drei Filme für die verschiedenen Altersgruppen in diesem Jahr:
Für Sieben- bis Zwölfjährige:
NELE IN DEN WOLKENRegie: Bernadette Hauke, Deutschland 2022, 25 Min.
Wer wünscht sich nicht, einmal die Wolken anfassen zu können? Nele möchte mit einem Heißluftballon in die Lüfte steigen und auch ihre im Gehen eingeschränkte Mutter mitnehmen. Die 10-Jährige hat viele Aufgaben – und findet immer eine Lösung.
HAMMOUDIS TRAUM
Regie: Eefje Blankevoort, Els v. Driel, Niederlande 2022, 25 Min.
Hammoudi musste mit 14 aus Syrien fliehen – ohne seine Familie. Er hat große Zukunftspläne für sein neues Leben in den Niederlanden. Schafft er es, seine Familie nachzuholen? Sein Traum, Arzt zu werden, gibt ihm Kraft.
FOLLOWING VALERIA
Regie: Nicola Fegg, Deutschland 2022, 32 Min.
Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wird Valeria durch sarkastisch-humorvolle TikTok-Videos zum Gesicht der jungen Kriegsgeneration. Nach der Flucht muss sie sich neu orientieren und lernen, mit Beschimpfungen wie "Kriegs-Profiteurin" umzugehen...
PädagogInnen können sich per email beim DOK.Fest melden und erhalten dann einen Zugang zu dem Angebot für ihre SchülerInnen.
Alle Infos dazu: https://www.dokfest-muenchen.de/SchuleDesSehens2023_Kino
DOK.Fest Kritiken 23
Filmkritik zu "And the King said, what a fantastic Machine"
Kameras sind ein großer und im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer wichtiger werdender Bestanteil unseres Lebens. Dabei ist diese Technologie noch keine 200 Jahre alt und ist nahezu für Jeden verfügbar. Wir haben die Möglichkeit in Sekunden Geschehendes zu dokumentieren und konsumieren täglich nicht selten stundenlang Aufgenommenes.
In ihrem ersten gemeinsamen abendfüllenden Film „AND THE KING SAID WHAT A FANTASTIC MACHINE“ erforschen die beiden Filmemacher Maximilien Van Aertryck und Axel Danielson die Frage, welchen Einfluss Bewegtbild und visuelle Medien auf unsere Sicht, Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung und somit auch auf unsere Kultur und Gesellschaft haben. Welche Faszination geht von der Kamera aus und wie kann sie zur Obsession werden? Wie verändert sich unser Verhalten, wenn wir wissen, dass wir gefilmt werden? Was machen all die Aufnahmen mit uns?
Der Film beginnt mit der ersten Fotografie überhaupt, aus dem Jahr 1826 und führt uns über das erste Bewegtbild 1887, die ersten Kino Aufführungen, über Propaganda Filme des zweiten Weltkrieges bis in die mit Fotos und Videos überströmte Gegenwart. Immer mit der vorangestellten Frage, welchen Effekt die Gezeigten Bilder auf uns Menschen haben oder hatten.
Der Film besteht komplett aus Archivaufnahmen, historischen Filmen, News-Reports, Internetvideos und Live-Streams, welche jedoch so präzise getaktet und wohl überlegt collagiert wurden, dass die Reaktionen der Zuschauer im Kino während der Vorführung dauerhaft hörbar und spürbar waren. Ob Lachen, angespanntes Murmeln oder auch von der Dramatik der Szene geschockte Stille, unterschiedlichste Emotionsäußerungen waren deutlich wahrzunehmen. Regelmäßig lassen die Regisseure verschiedene und gegensätzliche Perspektiven und Wahrnehmungen aufeinanderprallen und zeigen dem Zuschauer so auf, welche starke Kraft, wenn nicht sogar Macht Bewegtbild auf den Mensch haben kann.
Subtil, aber kraftvoll leitet das Voice-Over von Maximilien Van Aertryck durch die verschiedenen Epochen der Kamera und der visuellen Medien und gibt, wenn nötig Kontext zu dem Gezeigten.
„AND THE KING SAID WHAT A FANTASTIC MACHINE“ ist ein clever komponierter Dokumentar Film der einen durch seine oft auch provozierende Art und Weise über die Kraft, Macht und den Einfluss der Kamera auf uns Menschen nachdenken lässt. Vielleicht lässt uns die Erinnerung an diesen Film das nächste Mal innehalten, bevor wir einmal mehr eine Kamera in die Hand nehmen.
Gesehen von Yannick Walter
Filmkritik zu "VAI CAVALO"
VAI CAVALO – ein in Brasilien gedrehter Dokumentarfilm von Harold Grenouilleau und Vincent Rimbaux mit den Protagonisten Darlinho und Evidan.
Evidan ist der kleine Cousin des 12-jährigen Darlinho. Die beiden spazieren gerne zu zweit am Wegesrand, sammeln Krebse unter dem schmierigen Sand am Meer und erzählen sich Geschichten über Mädchen die sie gerne näher kennenlernen möchten. Neben der Kindheit der beiden ereignet sich jedoch ein Spiel, dass mit Ernsthaftigkeit und unnachgiebiger Willensstärke geprägt ist: Darlinho beginnt in frühen Jahren, den profitablen doch gefährlichen Sport des Jockey Reitens zu lernen. Während er sich in seinem Umfeld als fortgeschrittener Spieler in Wettkämpfen etabliert, will er auch seinen Cousin Evidan allmählich ermutigen sich dem Sport zu widmen um einander damit eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Evidan widerspricht dem nicht, wirkt aber spürbar angespannt – der Gedanke von den, mit Dopingmitteln gespritzen, Pferden fallen zu können, jagt ihm Angst ein.
Seine Gefühle sind natürlich und berechtigt, da die Pferde sich nach jeder Injektion heftig von den Zügeln loszureißen versuchen, dabei mit ihren Beinen wild um sich treten und in ihrem wütenden Toben unaufhaltsam scheinen. Zum Vorteil derjenigen, die ein Business damit treiben. Denn je schneller und aufgeregter das Pferd, desto höher die Wahrscheinlichkeit die Jockey Wettkämpfe zu gewinnen. Darlinho erkennt die Unsicherheit seines Cousins und versucht mit allen Mitteln sein Selbstvertrauen aufzubauen. Er ermutigt ihn selbst für die Turniere zu üben, er zeigt ihm wie man während des Laufs richtig sitzt und dem Pferd zuruft, sie reiten und ihm wird das Risiko des illegalen Sports als weniger problematisch dargestellt. Gleichzeitig betont er das Ansehen, die materialistischen Gewinne und spricht ihm Hoffnung zu.“ Es gibt kein Risiko zu fallen. Man ist zunächst ängstlich aber dann lernt man schnell. Wenn du anfängst zu laufen, hast du keine Angst mehr.” Als Evidan das erste Mal selbst gewinnt offenbart sich die Kehrseite der Medaille und die tiefe Beziehung der beiden rivalisiert mit den Ambitionen die er nun für den professionellen Sport entwickelt hat. In einer Gegend in der die Hoffnungslosigkeit im Alltag vorherrscht, wird genau abgewogen wie hoch die Bereitschaft ist, den Weg eines besseren Lebens zu gehen.
Mit plötzlichen Szenenwechseln erzählen Grenouilleau und Rimbaux die Kontraste zwischen Kindheit und harter Realität. Die Bilder der unter rigorosen Bedingungen eingesetzten Pferde sind brutal und prägen sich im Gemisch mit der Härte des Tons während des Tunierlaufs beim Zuschauer tief ein. Die anmutigen Pferde brechen aus den eisernen Metallboxen heraus, sie werden vom Schmerzmittel beirrt. Auf ihnen sitzen Kinder welche ebenso unschuldig aber hingebungsvoll in ihren Händen die Zügel ihrer Zukunft halten.
VAI CAVALO (zu dt.: Lauf Pferd) ist ein Film der die Zuschauer einlädt, einen Blick in die vielseitigen Facetten Brasiliens zu werfen und uns unseres eigenen Werdegangs dadurch wieder bewusster zu werden. Obwohl die Szenen illegale Geschäfte zeigen, die von Tierquälerei und Ausbeutung gesunder Kindheit zeugen, so umfassen sie doch auch all jene Aspekte in die den Menschen vereinen und auf die er Einfluss üben kann: Beziehungen und Bestrebungen mit ihren Missgünsten und Bereicherungen.
Gesehen von Fatbardhë Hakaj
Filmkritik "RUÄCH – EINE REISE INS JENISCHE EUROPA"
Gleich zu Beginn des Films erlebt man die beiden Filmemacher bei ihren schwierigen Versuchen, mit der Volksgruppe der Jenischen in Kontakt zu kommen und über sie einen Film zu drehen. Überall begegnen sie Misstrauen, Verweigerung und Furcht.
Wer sind eigentlich die Jenischen? Eine Gruppe von Menschen mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte die hauptsächlich in der Schweiz, Deutschland und Österreich leben. Allein 35000 Menschen, des ursprünglich Nichtsesshaften Volkes, leben in der Schweiz. Weltweit leben geschätzt mehrere Hunderttausende. Also warum haben wir bisher so wenig von Ihnen gehört?
Andreas Müller und Simon Guy Fässler haben 9 Jahre lang verschiedene jenische Familien und Personen begleitet und die teils tragischen Geschichten der Menschen dokumentiert, welche von Diskriminierung und Ausgrenzung berichten. Was jedoch schnell klar wird, die Dinge die ihnen widerfahren sind, sind nur ein Teil von dem, was diese Menschen ausmacht. Ihre eigene Sprache und Kultur, ihre starke liebe zur Freiheit und zur Familie und ihre oft ganz eigene Sicht auf die Dinge ist, was sie einzigartig macht. So leben sie parallel zu all den anderen Menschen, die vielleicht einen ganz anderen Freiheitsbegriff haben.
Was die beiden Filmemacher immer wieder erwähnen, ist dass sie keinen Film über die jenischen Menschen sondern viel mehr mit den jenischen Menschen gemacht haben. Dies wird auch sofort klar, sobald man die doch sehr nahen Situationen sieht, bei denen sie die verschiedenen Protagonisten begleiten. Daran, dass Andreas und Guy selber Protagonisten in ihrem Film sind, bemerkt man schnell, dass dies kein Film über jenische Menschen ist, sondern ein Film über zwei Ruächen (nicht jenische), die einen Einblick in das Leben dieser Menschen bekommen.
Im Film spürt man, wie der Kontakt über die Kinder der Jenischen ganz allmählich auch dazu geführt hat, dass sich auch die Erwachsenen öffneten. Genau dort setzt die besondere Kraft des dokumentarischen Erzählens ein, Guy Fässler und Andreas Müller lassen sich auf die Menschen ein, beobachten leise, zurückhaltend und stehts voller Respekt. Die Gespräche mit den Menschen wirken in keiner Szene künstlich oder gar respektlos, man spürt den besonderen Zugang, welchen die beiden zu Ihren Protagonisten haben, in nahezu jedem Moment des Filmes.
Die persönlichen Geschichten der Protagonist*Innen ziehen sich als roter Faden durch den Film und geben einen Einblick in ein jenisches Europa von dem wir sonst wenig, bis nichts mitbekommen.
Unterstützt und getragen wird das Ganze von beeindruckenden, atmosphärisch sensiblen Bildern und der eindrucksvollen Kameraarbeit für die überwiegend Simon Guy Fässler verantwortlich zeichnet. So dürfen wir besondere Momente, aber auch eine uns fremde Lebensrealität miterleben und miterfühlen, dürfen partizipieren an dem Vertrauen, welches die Filmemacher aufgebaut haben. Mit Ihrem starken Film haben Sie den Jenischen nicht nur ein Denkmal gesetzt, sondern auch längst überfällige Diskussionen angestoßen, sich auch um Minderheiten zu kümmern, die schlicht unter unserem Radar bleiben, die keine Lobby haben und keine Medienaufmerksamkeit bekommen.
Auch die Tonebene, um deren O-Ton Basis sich Andreas Müller überwiegend kümmerte, ist reich und aufwändig gestaltet, sie zieht einen hinein in den Film, lässt die Zuschauer auch emotional mitten in die Welt der Jenischen hineintauchen. Ein starker Dokumentarfilm, der einmal mehr deutlich macht, welche emotionale Qualität und erzählerische Kraft im filmischen Beobachten liegen kann.
Der Kinostart in der Schweiz ist der 31. August, es ist zu hoffen, dass der Film auch in Deutschland und Österreich in die Kinos kommt.
Gesehen von Yannick Walter
Interview
Anlässlich des 38. Dok.fest hatten wir die Gelegenheit mit Andreas Müller und Guy Fässler zu sprechen. Die beiden Filmemacher sprechen über die Entstehung des Films und über die Schwierigkeiten und ihr Vorgehen einen Film über eine so geschlossene Gemeinschaft wie die Jenischen in Europa zu machen. Hier ein Auszug aus dem Gespräch:
Filmkritik "Matter out of place"
Nikolaus Geyrhalter hat eine feste Fangemeinde, seine sehr besondere Erzählweise, auf die man sich, wenn man seine Arbeiten kennt,- sehr gerne einlässt, eröffnet den Zuschauer*Innen die Möglichkeit, an Orte geführt zu werden, die man normalerweise mit großer Sicherheit, niemals betreten würde. So auch in seinem neuen Film "Matter out of place", in dem es um die Müll-Spuren geht, welche die Menschen auf diesem Planeten hinterlassen. Am Anfang des Films tauchen wir noch aus scheinbar wunderschöner heiler Alpennatur in die bittere Realität eines Alpsees, dessen Ufer völlig mit Müll zugedeckt ist. Geyrhalter nimmt uns von da an mit an unterschiedlichste Orte, welche vom Wahnsinn unseres Umgangs mit dem Abfall erzählen. Dabei ist jeder neue Ort zugleich eine Entdeckungsreise, erlaubt jedes Bild, sich umzusehen und Details zu entdecken. Die Aufnahmen sind präzise durchkomponiert, haben oft in ihren Abläufen trotz feststehender Kamera eine innere Dramaturgie oder vielleicht könnte man auch von einer Choreographie sprechen. Dabei kommen viele der Aufnahmen geradezu poetisch daher um uns nur noch umso dramatischer klar zu machen, was alles an unserem Umgang mit diesem Planeten nicht stimmt.
Die Länge der verschiedenen Szenen ist wohldosiert, mindestens so lange, bis die innere Botschaft bei uns angekommen und sich die Bilder in unserem Bewußtsein festgeklammert haben. Die Tonebene ist ebenfalls fein durchkomponiert und in Dolby Atmos abgemischt. Filmmusik braucht und will der Filmemacher gar nicht, er vertraut zu Recht darauf, dass die gezeigten Momente aus sich heraus emotionalisieren.
Wie so oft in seinen Filmen nimmt sich der Regisseur und Kameramann selbst sehr zurück und es scheint, als wenn die Protagonist*Innen der verschiedenen Situationen in der Schweiz, Albanien, Griechenland, Nepal oder den Malediven ihren Tätigkeiten so nachgehen, als wären sie unbeobachtet. Geyrhalter zeigt nicht einfach nur unterschiedlichste Ansammlungen von Vermüllung, wie es manch andere Filmemacher*Innen getan haben, er zeigt vor allem, wie wir Menschen damit umgehen. Manche Szenen sind von sanfter Absurdität, etwa wenn ein winterfester LKW in einem Skiort in den Alpen den Müll einsammelt, um anschließend unter einer Seilbahngondel baumelnd, ins Tal zurückzuschweben.
Am Ende des Films sieht man, wie die Menschen nach einem großen Festival in Nevada in der Black Rock Wüste, all den Müll wieder zusammenräumen und sich bemühen, die Wüste möglichst spurenfrei wieder zu verlassen. Der vielleicht hoffnungsvollste Moment dieses starken und berührenden Filmes.
Gesehen von Mathias Allary
Interview
Anlässlich des 38. Dok.fest hatten wir die Gelegenheit mit Nikolaus Geyrhalter, den das Festival mit einer Hommage ehrt, zu sprechen. Hier ein Auszug aus dem Gespräch:
Filmkritik ETILAAT ROZ
Regie: Abbas Rezaie, (Afghanistan 2023, 93 Min)
Kinostart in Deutschland:
Dass Regisseur Abbas Rezaie, selbst Mitglied der Redaktion, diesen Film gedreht hat, lässt ein Zeitdokument entstehen und erinnert, ja mahnt geradezu, an das Schicksal der Menschen in Afghanistan zu denken. Er bleibt Monatelang bei dem Chefredakteur und den Redakteur*Innen der auflagenstärksten Zeitung Kabuls und beobachtet die Not und Verzweiflung der Menschen.
Der Film war Eröffnungsfilm beim DOK.fest 2023 in München,- keine Weltpremiere, aber eine Deutschlandpremiere.
In der Anmoderation des Films bei der Eröffnungsveranstaltung wurde von einem Kammerspiel gesprochen,- ja, das trifft zu, wenn man es räumlich betrachtet,- tatsächlich wurde der gesamte Film in den Innenräumen und dem Innenhof des Redaktionsgebäudes der Afghanischen Zeitung Abbas Rezaie gedreht. Hier hört der Vergleich aber auch schon auf, denn das, was gute Kammerspiele stets mit sich bringen, die große Intensität und Konzentration auf den einzelnen Menschen, das leistet der Film nur bedingt. So ist man hin und hergeworfen zwischen der Größe des Themas,- Journalist*Innen, die in Kabul ihr Leben riskieren um frei und unabhängig weiter berichten zu können und der Frage, ob es sich um einen gut erzählten Film handelt. Erzählerisch ist der Film nicht so überzeugend, wie seine starke Thematik und der Mut der Protagonist*Innen.
Dass der Film mit einem Handy gedreht wurde, hat ihn erst möglich gemacht in jenen Tagen, als die amerikanischen und Europäischen Schutztruppen beinahe fluchtartig das Land verließen und die Taliban nahezu ohne auf Widerstand zu stoßen, einfielen. Der Chefredakteur ermöglich diversen Redakteuren die Flucht bevor er zuletzt Monate nach dem Einmarsch der Taliban selbst aus Kabul flüchtet.
Auch wenn man es zum Erzählstil erklärt, mit dem Chefredakteur der Zeitung monatelang in den Redaktionsräumen zu bleiben, vielleicht hätten erfahrenere Filmemacher dieser Situation andere Bilder, andere Intensität und Bildsprache abgerungen. Doch das ist leicht gesagt,- die allgegenwärtige Bedrohung in dieser besonderen Situation hat die Dreharbeit mit Sicherheit massiv beeinflusst. Wie gesagt,- das Thema und die Erlebnisse der Menschen, all das ist sehr stark, dagegen fallen das Storytelling und die Gestalt des Films etwas ab.
Ein thematisch besonderer Film mit einer wichtigen Botschaft. Den Redaktionsmitgliedern setzt der Film ein Denkmal.
Gesehen von Mathias Allary
Bilder: DOK.fest München